Page 104 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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erit otium, quaerite, an ›quadrigam‹ et ›harenas‹ dixerit e cohorte illa dumtaxat
                  antiquiore uel oratorum aliquis uel poetarum, id est classicus adsiduusque aliquis
                  scriptor, non proletarius.« (Noctes Atticae, XIX 8, 14-15; zitiert nach der Ausg. von
                  Peter K. Marshall, Oxford; New York; Toronto 1968, Bd. 2, S. 572, Zeilen 8-15)


                  »[14] Es ist aber nicht möglich, sag’ ich, dass in einem Staate, wo Geschäfte sich
                  auf Geschäfte häufen und die (volle) Thätigkeit der Menschen so in Anspruch
                  genommen ist, alle diese Fragen aufgeworfen und bis in die kleinsten Einzel-
                  heiten ausführlich und erschöpfend gelöst werden können. Doch fürwahr, ich
                  merke eben, dass ich euch durch diese meine (Neben-)Bemerkungen (bereits) zu
                  lange aufgehalten habe, während euch vielleicht, was ich nicht wissen kann, ein
                  wichtigeres Geschäft obliegt. [15] Geht also jetzt nur (euerem Berufe nach) und
                  wenn ihr zufällig wieder einmal etwas freie Zeit habt, dann fragt abermals bei mir
                  nach, ob irgend einer der Redner, oder der Dichter, d. h. nicht etwa ein unterge-
                  ordneter, sondern ein musterg[ü]ltiger und massgebender (classicus adsiduusque
                  aliquis scriptor), selbstverständlich aus jener älteren Schriftsteller-Reihe, irgend
                  einmal ›quadriga‹ (im Singular) und ›harenae‹ (im Plural) gesagt hat.« (zitiert
                  nach der Ausg. von Fritz Weiss, Die Attischen Nächte des Aulus Gellius, Leipzig
                  1876, Bd. 2, S. 450f.)

                  Strenggenommen prägt Gellius also einen relationalen Tendenzbegriff,
               denn classicus (›mustergültig‹, ›vorbildlich‹) wird bei ihm untrennbar mit der
               Autoritätsgläubigkeit vorbildheischender Gelehrter in Verbindung gebracht.
               Verkürzt gesagt: Nur spitzfindige Philosophen und pedantische Philologen
               sind auf der Suche nach Klassikern. Die Eigenschaft klassisch kennt kein
               Ansich, sondern ist ein Konstrukt. Gewiss war für den römischen Leser die
               Ironie der Gleichsetzung von ›reicher Autor‹ gleich ›guter Schreiber‹ von
               vorneherein offensichtlich. Dahinter steht die römische Geisteshaltung des
               sogenannten Attizismus oder Archaismus jener Zeit. Gemeint war damit die
               Rückwendung zum griechischen Vorbild in allen Fragen der Philosophie und
               Rhetorik. Vor allem mit Blick auf die Sprachpflege vertrat Aulus Gellius diese
               Hinwendung zum anspruchsvollen, aber auch altehrwürdigen Stilideal. Wir
               würden heute sagen, Gellius war ein kulturkonservativer Literaturkritiker.
               Das Wort ›attisch‹ signalisiert dabei den Bezug auf Attika, die Kernregion
               des antiken Griechenland. Der römische Attizismus markierte also die Wie-
               dergeburt einer neuen Liebe zum alten Griechenland. Schließlich unternahm
               Gellius um 160 n. Chr. seine titelgebende Bildungsreise in das attische Athen,
               das für die gebildeten Römer jener Zeit als die heimliche Kulturhauptstadt
               der alten Welt galt. Die Attischen Nächte stammen aus der Regierungszeit das



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