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Kernkanon


                  Das Konzept bezeichnet eine Mindestauswahl von (literarischen) Werken
               oder Schriften, deren Lektüre und Kenntnis oder zumindest grundsätzliche
               Bekanntheit von Schule, Universität und Literaturkritik empfohlen oder
               sogar für unverzichtbar erachtet werden (zum Stichwort vgl. auch H. Korte
               in: Arnold 2002, S. 34f.). In etwas verallgemeinerter Form kann man auch
               davon sprechen, dass das kulturelle Selbst verständnis einer Nation oder
               Sprachgemeinschaft insgesamt auf einem ›Kernkanon‹ beruhe. In dieser
               erweiterten Verwendung entspricht der Begriff dann dem gebräuchlicheren
               Schlagwort vom →Bildungskanon. Der Kernkanon einer Sprache und Kultur
               ist stets historischen Verschiebungen, aber auch methodischen und bildungs-
               politischen Umwertungen unterworfen. Zum Kernkanon gehören in erster
               Linie diejenigen Werke einer Literatur, die solche Schwankungen in Urteil
               und Geschmack überstehen und über längere Zeiträume als Bezugspunkt
               kultureller Identitätsstiftung erhalten bleiben. Im deutschsprachigen Raum
               gehören hierzu sicherlich die maßgeblichen Werke der Großepoche von
               Kant, Lessing und Wieland bis zu Raabe, Keller und Fontane. Aller Kanon-
               skepsis zum Trotz zählen die Schlüsselwerke von Goethe und Schiller zum
               klassischen Kernbestand des deutschen Literaturkanons. Weniger gelesene
               oder behandelte und vernachlässigte Werke einer solchen Auswahl zählen
               dagegen eher zum ›Randkanon‹ (s. H. Korte, in: Arnold 2002, S. 35f.). In der
               Forschung wird der Begriff  Kernkanon auch praktisch gewendet im Sinne
               einer curricularen Lektüre-Empfehlung oder redigierten Leseliste. Einige
               Kanonforscher sprechen in diesem Fall pointiert von einem »Akut-Kanon«
               oder - süffisant - vom »Instituts cicerone« (Gendolla/Zelle 2000, S. 11). Das
               auf die Antike zurückgehende ital. Cicerone (›Fremdenführer‹; ›gedruckter
               Reiseführer‹) steht dabei für die Leseliste eines germanistischen Instituts.


                  Wertungstheoretisch etabliert das Begriffspaar Kernkanon/Randkanon ein
               Gegenmodell zum konservativen Kanonverständnis. So stellen Renate von
               Heydebrand und Simone Winko der starren Dichotomie von ›Auswahl‹ und
               ›Auschluss‹ ein offenes Kanonkonzept entgegen (von Heydebrand/Winko
               1996). Neben einer mehrheitsfähigen »Kernzone« bleiben den Autorinen
               zufolge »Randzonen« innerhalb eines Literaturkanons stets durchlässig. Dies
               gelte umso mehr im Zeitalter der Globalisierung, da die Trennung zwischen
               hoher und ›übriger‹ Literatur stark an Bedeutung verliere.



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