Page 102 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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tätsseminaren verschaffen. Im Unterschied zu den →Kanonbildnern werden
               Klassikermacher in der Regel nicht selber im engeren Sinne literarisch tätig.
               Vielmehr verhelfen sie Autoren und Werken der Literatur auf journalistische,
               publizistische oder anderweitig institutionalisierte Weise zu ihrem Platz im
               Kanon einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft (vgl. auch Charlier 2005a;
               2009). Zwei Gruppen von Akteuren sind dabei zu unterscheiden. Leser oder
               Liebhaber eines bestimmten Autors betrachte ich eher als ›Agenten‹ im Prozess
               der literarischen Kanonbil dung. Sie urteilen und werten als einzelne Subjekte.
               Demgegenüber handelt es sich bei Verlagen oder Schulbehörden um eher kol-
               lektive Instanzen, die ihre Literaturauswahl in Form von Verlagsprogrammen
               oder Lehrplänen (Curricula) treffen und damit überindividuell wirksam werden
               lassen. Diese institutionellen Klassiker macher sind ›Agenturen‹ im Prozess der
               literarischen Kanonbildung. Solche agenturähnlichen Kanonmacher stehen der
               Seite der Vermarkter oder Vermittler näher, die ›Agenten‹ dagegen eher den
               Rezipienten und Lesern am Ende der literarischen Verwertungskette. Diese
               Spannung zwischen der vemeintlich kanonischen Macht eines Einzelnen und
               dem möglicherweise diffuseren Einfluss von Kollektiven manifestiert sich auch
               in der Metaphorik von Begriffen wie­→Literaturpapst oder →Kritikermafia.


                  Bei literarischen Klassikermachern kann es sich um folgende PErsonEn  (1)
               oder InstItutIonEn (2) handeln: (1a) um die begeisterten Leser und Anhänger,
               auch: Kenner eines Autors, Dichters oder Schriftstellers; (1b) um seine/ihre
               glühendsten Verehrerinnen und Verehrer, etwa im Rahmen eines literarischen
               Salons; sowie (1c) um den oder die Verleger eines Schriftstellers, einstmals
               »Buchhändler« genannt. – Ferner kommen (1d) für diese Begriffsnuance die
               Assistenten, Mitarbeiter und Editoren von Werk oder Nachlass eines Autors
               in Frage (die ›Eckermänner‹ und -frauen); um (1e) Fachwissenschaftler,
               Philologen und Historiker, die sich auf einzelne Autoren oder Œuvres spe-
               zialisiert haben; sowie (1f) um die Macher von Wörterbüchern, oder die
               Redaktoren von Nach schlagewerken und Lexika. Unter (2) sind zu nennen:
               (2a) Literarische Gesell schaften, die sich dem Lebenswerk und der Wirkung
               eines Autors, Dichters oder Schriftstellers als Verein oder Körperschaft
               widmen (literarische Gesellschaften existieren in Deutschland z. B. für Dante,
               Goethe, Schiller, Hölderlin − aber auch zu Ehren von Friedrich Rückert oder
               Thomas Mann). Literarische Preise gehören ebenfalls in diese Kategorie,
               und zwar entweder nach ihrem Stifter (Alfred Nobel) oder nach dem Dichter
               benannt, dem sie ehrend gewidmet sind (Georg Büchner, Friedrich Hölder-



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