Page 98 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Klassik, deutsche


                  Das heute als überholt geltende Konzept einer ›deutschen Klassik‹ geht
               zurück auf die Germanistik der sogenannten Gründerzeitepoche des deutschen
               Kaiserreichs, also die Zeit nach 1871. Als einer der Vordenker des Begriffs
               gilt der Literarhistoriker Heinrich Laube (Geschichte der deutschen Litera-
               tur, 1839/40; Teil 5: »Das Klassisch-Deutsche«; dieser Abschnitt behandelt
               »Schiller« und »Göthe« – in dieser Reihenfolge – erstmals unter dieser
               Bezeichnung.) Wenn überhaupt, so wird der Terminus deutsche Klassik heute
               ungleich freier gebraucht und umfasst zeitlich in etwa die Literatur der Epoche
               zwischen 1750 und 1850. Aufgrund der immensen Ausdifferenzierung, die
               dieser Zeitraum aus Sicht der modernen Literaturwissenschaft mit seinen
               zahlreichen Binnenepochen (von ›Sturm-und-Drang‹ bis ›Biedermeier‹)
               erfahren hat, erscheint die Definition als einheitliche Stilepoche allerdings
               nicht mehr zeitgemäß. Die terminologisch korrekte Bezeichnung für das
               gemeinte Phänomen lautet vielmehr →Weimarer Klassik. Dieser Terminus
               signalisiert, dass es sich bei der ästhetischen und literarischen Bewegung aus
               Weimar lediglich um eine Strömung unter mehreren möglichen oder auch heute
               vergessenen handelt. Wie kaum eine andere nationale Klassik - wie etwa in
               Frankreich - blieb die Weimarer Klassik im engeren Sinne am Vorbild der
               griechisch-römischen Antike orientiert (vgl. Bosco 2004, S. 45f.). Allerdings
               ermöglicht das ältere Konzept einer deutschen Klassik auch die Zuordnung
               von Dichternamen zu Gruppen, die an keine exakte Epochenbezeichnung
               oder festen Wirkungsort gebunden sind, wie etwa die Reihenbildung ›Goethe-
               Schiller-Hölderlin-Kleist‹. Auch schwankte die Datierung einer deutschen
               Klassik von jeher. Ein repräsentatives Beispiel für einen eher weit gefassten
               Rahmen bildet die Editionsreihe »Bibliothek deutscher Klassiker«, die im
               Jahr 1955 aus der Zusammenarbeit zwischen den Nationalen Forschungs-
               und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (heute
               Stiftung Weimarer Klassik) und dem Aufbau-Verlag hervorging. Auch in
               Westdeutschland erschien unter Federführung des Deutschen Klassiker
               Verlages in Frankfurt (Main) seit Mitte der 1980er Jahre eine gleichnamige
               Reihe (vgl. Honnefelder 1985, in der Bibliografie unter Punkt A.II.1). Bis
               heute gelten beide Projekte als verlegerische Versuche, das Substrat einer
               deutschen Klassik zu einer Art globaler literarischer Universalepoche zu
               verlängern - und zwar in beide Richtungen auf dem historischen Zeitpfeil.
               In 35 Jahren vereinigte allein die Aufbau-Reihe 70 Titel deutschsprachiger



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