Page 107 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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von »classisch« traten im Laufe der Zeit noch zwei weitere Valenzen hinzu,
               und zwar im Sinne von ›herkömmlich‹ (»klassi sche Physik«) und ›typisch‹
               (»klassische Karriere«). Im modernen Hoch deutsch kann das Adjektiv klas-
               sisch Bezugswörter aus fast allen Gegenstands bereichen der modernen
               Erfahrungswelt näher bestimmen. Es gibt klassische Mineralwassersorten,
               klassische Stromtarife, klassische Möbeldesigns und klassische Beklei-
               dungsstile. Da in der globalisierten Informations- und Medien welt vor allem
               Anglizismen produktiv auf die wichtigsten Welt sprachen einwirken, wurde
               engl. classic/al sogar sprachproduktiv für die deutsche Wortfamilie Klassik/
               klassisch. In der Werbung für Finanzprodukte existiert beispielsweise ein
               Sprachbeleg dafür, dass im Deutschen das (unflektierte) Eigenschaftswort
               »klassik« (»Postbank Privat Rente klassik«, 2009) aktiv als Entsprechung von
               engl. classic(al) verwendet wird. Genaugenommen handelt es sich bei dieser
               Verwendung um einen (hybriden) Neologismus. Auf Werbetexter scheint das
               Wort einen enormen Reiz auszuüben. Wie kaum ein anderes Schlagwort aus
               der abendländischen Bildungstradition konnotiert es offenbar Vorstellungen
               von mustergültiger Hochwertigkeit, zeitloser Seriosität und unzweifelhafter
               Zuverlässigkeit. Im Englischen gibt es darüber hinaus eine Fülle von Mar-
               kennamen und Produkt kategorien (sowie sogenannte »Wortmarken«), die das
               Grundwort classic/al auf eine Weise modifizieren, wie sie standardsprachlich
               wohl inakzeptabel erscheint. So betitelt die eigentlich unzulässige (hybride)
               Schreibung »classixs« einen Katalog mit modernen Erotik-Produkten in
               deutscher Sprache. Die Konjunktur des ›klassischen‹ Wortfeldes beweist nur
               einmal mehr, wie lebendig sich die anti ken Wurzeln unserer Kultur in den
               Reizfluten der modernen Mediensprache erhalten haben.




                                           ›Klassizität‹


                  Die abstrahierende Ableitung geht vermutlich auf Jean Paul (Johann Paul
               Friedrich Richter, 1763-1825) zurück, der den Begriff – in der zeitgenössischen
               Schreibweise »Classicität« – bereits leicht pejorativ verwendete. Dies geschah
               im Sinne der antiken Vorstellung im Sinne einer eher formalen oder ›gramma-
               tischen‹ Mustergültigkeit, die jedem x-beliebigen Werk oder zweitklassigen
               Schrifsteller jener Zeit zugeschrieben werde: »Keine Begriffe werden will-
               kürlicher verbraucht als die von Einfachheit und von Klassizität«, bemerkt Jean
               Paul in seiner Vorschule der Ästhetik, nebst einigen Vorlesungen in Leipzig



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