Page 109 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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nen Buches als neuem materiellem Überlieferungsträger kaum denkbar. Die
               serielle Struktur und der − im Vergleich zum älteren Textspeicher Schriftrolle
               − größere Um fang des Mediums handschriftliches Buch könnte die christliche
               Kanonbildung beflügelt oder sogar überhaupt erst möglich gemacht haben.

               Diese Über legungen dokumentieren eindringlich, wie eng Kanontheorie und
               Medien geschichte verbunden sind.



                                          Kodifizierung



                  Der Begriff besitzt zunächst eine religiöse und eine rechtliche Dimension.
               Als Nomen actionis bzw. Nomen acti bedeutet das Wort: (1.) fEstlEgung eines
               Korpus von heiligen Schriften oder Büchern einer religiösen Offenbarung,
               z. B. die biblische Kanonbildung des Christentums; (2.) SchrIftlIchE fIxIErung
               von Rechtsgrundsätzen oder -regeln; Festschreibung einer Rechtsordnung auf
               der Basis von Texten einer Gesetzessammlung. In der Sprachwissenschaft,
               speziell in der historischen Lexikografie, entspricht der Begriff der Kodifi-
               zierung auf der Ebene einer Hoch- oder Nationalsprache in etwa dem Begriff
               der Kanonisierung auf der Ebene eines nationalen Literaturkorpus’. So kann
               man davon sprechen, dass ein historischer Sprachstand je nach Beschreibungs-
               art durch ein Wörterbuch kodifiziert wird. Im Falle eines Individual- oder
               Bedeutungs wörterbuches wird der Sprachstand synchron festgehalten, so
               z. B. für Goethe mit Blick auf die deutsche oder für Alexander Pushkin im
               Hinblick auf die russische Sprache. Im Falle eines am gesamten Wortschatz
               einer historischen Sprachstufe orientierten Wörterbuchs (Thesaurus) wird
               eine Sprache diachron kodifiziert, d. h. mit den älteren Quellen beginnend

               und zu den jüngeren oder neuen gleichsam zeitlich aufsteigend. Ein Monu-
               ment diachroner Sprachbeschreibung bildet das Deutsche Wörterbuch von
               Jacob und Wilhelm Grimm. Wörterbücher sind stets auf eine kanonisierende
               Auswahl jener Textzeugen angewiesen, die in Form von Sprachbelegen
               und Beispielzitaten die Grundlage der Beschreibung von Wortbedeutungen
               bilden. Ein weiterer Bereich besteht in der Tradierung von Welt-, Fach- und
               Realienwissen durch Handbücher und Lexika. Dabei handelt es sich gleichsam
               um die Kodifizierung von Sachwissen oder Fakteninformation im Rahmen
               eines lexikalischen Nachschla gewerks.







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