Page 108 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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über die Parteien der Zeit von 1804 (III. Abteilung, 4. Kapitel: »über Einfach-
               heit und Klassischsein«). Was der große Humorist damit meinte? Auch völlig
               mediokre Schriftsteller gelangen zu Zeiten unversehens zu Rang und Ruhm
               eines ›Klassikers‹! In modernen deutschen Wörterbüchern ist die von Jean
               Paul verspottete Nuance (›formelle Vorbildlichkeit‹) in der Regel nicht mehr
               wieder gegeben. Das Wort wird inzwischen auch in der Germanistik durchaus
               unhistorisch – und teilweise sogar inflationär – verwendet. Dazu stimmt ein
               weiteres Diktum, das ebenfalls Jean Paul als scharfsichtigem Beobachter
               seiner Zeit zugeschrieben wird: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als
               von Ästhetikern.« (Vorrede zur ersten Ausgabe der Vorschule der Ästhetik) .



                                              Kodex


                  Der Begriff geht auf das lateinische Maskulinum cōdex, codicis (mit älterer
               Nebenform caudex) zurück. Codex bedeutete ursprünglich ›Baumstamm‹.
               Sodann stand das Wort für eine kleine, mit Wachs überzogene Holz- oder
               Schreibtafel. Als Metonymie übertragen heißt das lateinische Wort soviel
               wie Heft, Buch, Notizbuch, in speziellerer Bedeutung auch Rechnungs buch,
               Hauptbuch oder Verzeichnis. In etwa seit dem 18. Jahrhundert ist das Wort
               auch als Entlehnung in der deutschen Sprache gesichert, und zwar in der
               Bedeutung ›Handschrift‹, ›Gesetzessammlung‹.

                  Innerhalb der Geschichte des Christen tums stehen ›Kodex‹ und ›Kanon‹
               in enger Beziehung. So traten in den ersten frühchristlichen Jahrhunderten
               unserer Zeitrechnung erstmals hand geschriebene Seitenkonvolute an die Stelle
               der zuvor üblichen Schriftrollen als Überlieferungsträger für die biblischen
               Schriften. Diese Innovation ging nach Meinung des Baseler Theologen und
               Kirchen historikers Martin Wallraff (Jahrgang 1966) unmittelbar einher mit
               der Festschreibung einer verbindlichen Auswahl von biblischen Schriften,
               insbesondere der Evangelien. Bestimmte Texte wurden fortan in einen kano-
               nischen ›Kodex‹ der heiligen ›Bücher‹ aufgenommen, andere wie derum als
               sogenannte Apokryphen aussortiert. Nach Auffassung Wallraffs gilt damit
               für die wichtigste ›Buchreligion‹ des Abendlandes, dass ihre theo logische
               Selbstwerdung untrennbar mit der Einführung des Buches (als gebundene
               ›buchförmige‹ Handschrift) verbunden ist. Der biblische Kanon, wie wir ihn
               heute kennen, erscheint demnach ohne die Durchsetzung des handgeschriebe-



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