Page 110 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 110

Ko-Kanonisierung


                  Der Begriff bezeichnet den strategischen Akt der Selbstkanonisierung eines
               Autors oder Werks durch aktive Verknüpfung mit einem bereits einschlägig
               bekannten Namen, (Kunst-)Werk oder Werktitel. Martin Walser, mit über
               80 Jahren neben Günter Grass heute unumstritten einer der international
               bekann testen Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur, versuchte mit
               seinem Goethe-Roman Ein liebender Mann (2008), seinen eigenen literatur-
               geschichtlichen Rang an einem singulären Autor wie Goethe zu messen. Der
               Prosatext behandelt die kurze Liebesgeschichte zwischen dem über 70-jäh-
               rigen Dichter und der 1821 erst siebzehnjährigen Ulrike von Levetzow. Die
               Episode gipfelte im Jahr 1823 sogar in einem Heiratsantrag des offenbar alles
               andere als greisen Olympiers. Goethe kommt dabei als literarisches Alter ego
               Walsers in fiktionalen Dialogen und Briefen zu Wort. Walser tritt damit in
               die Fußstapfen von Thomas Mann, seines Zeichens wohl der bedeutendste
               und fleißigste sprachliche ›Goetheisierer‹ der modernen deutschen Literatur
               (Lotte in Weimar, 1939).


                  Ko-Kanonisierungen lassen sich oft sprachlich festmachen. Der Autor eines
               wissenschaftlichen oder schöngeistigen Werkes adaptiert einen erfolgrei chen
               oder epochemachenden Titel, der zum geflügelten Wort für eine be stimmte

               Grundidee oder Leittendenz geworden ist. Ein sprechendes Beispiel hierfür
               bildet die enorme Fülle von Titelnachahmungen von Sten Nadolnys Roman
               Die Entdeckung der Langsamkeit (1983). Seit dem durchschlagenden Erfolg
               des Romans ist eine Fülle von Aufsätzen, Schriften und Büchern ent standen,
               die sich der »Entdeckung« von – aus kulturkritischer Sicht – positiven und
               ›politisch korrekten‹ Werten oder Eigenschaften widmeten. Dabei ver flacht
               Nadolnys Leitbegriff oftmals zum hohlen Reflex (»Goethes Entdeckung der
               Langsamkeit«). Die ko-kanonisierende Absicht der Imitatoren erscheint dabei
               offensichtlich. Das modische Ideensubtrat einer vermeintlich ursprünglich-
               natürlichen Lang samkeit wird gleichsam angezapft, um damit letztlich den
               eigenen publizisti schen Erfolg mit einer Thesensubstanz anzureichern, die sich
               im Literatur betrieb zuvor bereits nachweislich bewährt hat. Denn Nadolnys
               Roman erwies sich zu seiner Zeit als echter Seller. Auch Daniel Kehlmanns
               erfolgreicher Roman Die Vermessung der Welt (2005) war Auslöser von
               zahlreichen Titelechos (vgl. z. B. Thomas de Padova: Das Weltgeheimnis.
               Kepler, Galilei und die Vermessung des Himmels, 2009).



               106
   105   106   107   108   109   110   111   112   113   114   115