Page 111 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Ko-Kanonisierung ist weder aus der Literaturgeschichte noch dem Literatur-
               betrieb wegzudenken. Zwangsläufig kommt es daher zu Berührungen und
               Überschneidungen mit literarischen Techniken. So formu liert der Autor
               Christian Friedrich Delius den Titel seines autobiografischen Romans Bildnis

               der Mutter als junge Frau von 2006 als Anspielung (Allusion) auf James
               Joyce’ frühe Erzählung A Portrait of the Artist as a Young Man (1914/15).
               Der irische Autor und sein Werk sind bekanntlich zu Ikonen der experimen-
               tellen Weltliteratur des 20. Jahrhunderts geworden. Joyce und seine Figur
               des Stephen (Dedalus) wurden zu Säulenheiligen der klassischen Mo derne.
               Delius imitiert in seinem schmalen Bändchen das große Vorbild und dessen
               bahnbrechende literarische Innovation, die Erzähltechnik des Interior mono-
               logue bzw. Stream-of-consciousness, indem er seine gesamte Ge schichte in
               einem dahinströmenden Satz und ohne Interpunktion − das heißt tatsächlich:
               ohne einen einzigen satzwertigen Punkt – herunterschreibt. Er radikalisiert
               also einfach ein erprobtes avantgardistisches Gestaltungsmittel, das sich − vor
               allem in Literaturwissenschaft und Gelehrtenwelt − als typisches Merkmal der
               klassisch-modernen Weltliteratur durchgesetzt hat. Über das Gelingen dieses
               sprachlichen Experiments kann man streiten. In jedem Fall dokumentiert es
               auf eindringliche Weise, als wie eng verflochten sich literarische Strategien
               der poetischen Anspielung und der vermarktungsorientierten Anlehnung beim
               bewunderten oder auch nur instrumentalisierten Vorbild erweisen können.



                                    Kooperation, literarische


                  Die Zusammenarbeit zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Johann
               Christoph Friedrich (von) Schiller (1759-1805) bildet das klassische Exempel
               für eine heraus ragende Werkgemeinschaft in Literatur und Wissenschaft. Die
               Betrachtung dieser paradigmatischen Beziehung kann helfen, das an sich
               rare Phänomen echter literarischer Gemeinschaftswerke besser zu verstehen.
               So kontrastiert das klassische Muster ›dioskurischer‹ Kooperation mit der
               Sehnsucht der Ro mantiker nach einer Poesie, die einem überindividuellen
               oder sogar trans personalen »Volksgeist« entspringt. Die gemeinsame Werk-
               reihe von Goethe und Schiller eröffnen die satirisch-polemischen Xenien
               (wörtlich: »Gast geschenke«), die ursprünglich für den Musen-Almanach
               auf das Jahr 1797 entstanden, gefolgt von den im gegenseitigen Wettstreit
               entstandenen Balladen. Höhepunkt der Gemeinsamkeit ist das Projekt einer



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