Page 112 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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ästhetischen Erziehung, verdichtet im wichtigsten Organ der deutschen
Klassik, der Zeitschrift Die Horen (1795-97). Der von Goethe bereits zu
Lebzeiten zur Herausgabe vorbereitete Briefwechsel mit Schiller ist nicht nur
das umfänglichste Korpus gemeinsamer Textproduktion (bestehend aus über
1.000 Briefen in fast 11 Jahren). Diese einzigartige Ideenwerkstatt eröffnet
zugleich eine weite geistige Arena für zentrale Kontroversen um Aufklärung
und Idealismus, Philosophie und Natur wissenschaft, Antike und Moderne,
wie sie sich in der Begriffsprogrammatik von ›klassisch‹ versus ›romantisch‹
oder ›naiv‹ versus ›sen timentalisch‹ manifestierten. Eine weitere wichtige
Station bildete die Zusammenarbeit auf dem Theater. Als Leiter des Wei-
marer Theaters inszenierte Goethe einige der großen Dramen Schillers. Im
Gegenzug beriet Schiller seinen großen Förderer bei dessen noch in Arbeit
befindlichen Prosawerken und tat sein Bestes, um dem Freund über Selbst-
zweifel an seinem epochalen Faust-Projekt hinwegzuhelfen. Schließlich kam
es auch im theoretischen Bereich zu einer gemeinsamen Autorschaft an dem
Text Über epische und dramatische Dichtung (1797). Nach dem Tode seines
großen Freundes sprach Goethe davon, dass mit Schiller »die Hälfte seines
Daseins« dahingegangen sei (→Dioskurentopos).
Über die Partnerschaft der ›beiden Großen‹ hinausgehende Formen der
literarischen Zusammenarbeit liefert die Sammlung ›kollektiver‹ Poesie im
Geiste der Romantik. Manifest geworden ist diese Art der Kooperation etwa
in den Märchen- und Volksliedsammlungen der Gebrüder Grimm oder in der
Anthologie Des Knaben Wunderhorn (1805-08) von Clemens Brentano und
Achim von Arnim. Eine ironische Etikettierung ›kooperativer‹ Literaturpro-
duktion findet sich auch pointiert im Begriff der sogenannten Brecht-Factory.
Kritikermafia
Während Ausdrücke wie ›Geldmafia‹ oder ›Schwarzhandelsmafia‹ im
Volksmund auf ein auch im strafrechtlichen Sinne kriminelles Handlungs- und
Rollenmuster abzielen, handelt es sich bei der Kritikermafia um eine meta-
phorische Analogie, die gerne polemisch im Bereich von Kunst, Musik und
Film verwendet wird. Im Literaturbetrieb sug geriert das Wort eine anoynme
Gruppe von Rezensenten, die sich verdeckt miteinander abstimmen, um die
Anerkennung oder den Erfolg eines Autors mit allen Mitteln zu verhindern.
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