Page 114 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Hohe Wertschätzung, esoterische Kommunikation und rituelle Wiederho-
               lung der Lektüre − all diese Elemente erinnern an die religiösen Wuzeln des
               zugrunde liegenden Begriffs von Kult oder Kultus. Der literarische Begriff
               des Kultbuchs überschneidet sich also mit der Kanonbildung im Bereich
               von Religion und Theologie. Etwas Heiliges oder Höchstes ist es, worum
               ein Kult entsteht, »ein Kult gemacht wird«. Die Begriffsbestimmung aus
               Wikipedia beschreibt alle diese Merkmale in zutreffender Weise. So ist die
               zitierte Zu schreibung »erfolgreiches Kultbuch« kein Pleonasmus. Denn das
               Phänomen des Kultbuchs ist älter als das Wort und dessen offizielle Aufnahme
               in den deutschen Wortschatz. In der Literaturgeschichte gab es nämlich auch
               ›Kult bücher‹, die nur im engsten Kreis persönlich miteinander bekannter
               Personen kursierten und die nicht unbedingt einen verlegerischen Erfolg im
               öko nomischen Sinne darstellten (→Geheimtipp; vgl. auch Meik 1997, s. in
               der Bibliografie unter Punkt A.II.2).


                  Eines der bekanntesten Kultbücher der klassischen deutschen Litera-
               tur ist sicherlich Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 1774, ein
               Liebesroman in Briefen, der bekanntlich mit dem tra gischen Freitod des
               Protagonisten endete. Wie das historisch belegte Phänomen des sogenannten
               →Wertherfiebers dokumentiert, handelte es sich bei diesem ersten großen
               literarischen Erfolg Goethes um eine sehr ambivalente Art von Kultbuch.
               Das Buch wurde viel gelesen, es verkaufte sich europaweit und diente zahl-
               reichen Parodisten als Vorlage. Leider fühlten sich jedoch zahlreiche junge
               Männer mit Liebes- oder Weltschmerz dazu inspiriert, es ihrem literarischen
               Idol im negativen Sinne gleichzutun und ihren Freitod in ähnlicher Weise zu
               inszenieren (→Wertherismus). Strenggenommen war das gesellschaftliche
               und literarische Skandalon, das die Veröffentlichung des Romans auslöste,
               noch keine Form des Kultes um Goethe als Person. Vielmehr bildete der
               frühe Werther-Kult eine antizipierende Andeutung dessen, was später mit
               dem Goethe-Kult der Weimarer Zeit Gestalt annahm und weltweit Wirkung
               erzielen sollte. Im Zusammen hang mit der Verehrung, die Goethe aus dem
               Umfeld der Berliner Salons zuteil wurde, wäre eine weitere Facette des
               Begriffes Kultbuch zu nennen. So schmückte Bettina Brentano von Arnim
               ihre Verehrung des Weimarer Dichterfürsten fiktional aus und veröffentlichte
               das dreibändige Skandal buch Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Seinem
               Denkmal (1835). Bettines Briefwechsel war nicht nur ein ›Kultbuch‹ in dem
               Sinne, dass es von vielen Gleichgesinnten aufgenommen und weitergetragen



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