Page 115 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 115

wurde − wie etwa von dem ersten Goethe-Biografen Herman Grimm, der es
               herausgab. Vielmehr be gründete das Werk auch den bürgerlichen Kult um
               Goethe als Person. Nicht das Buch war also der eigentliche Kultgegenstand,
               sondern die alles über strahlende Person Goethes.



                                          ›Lesenswerte‹


                  Im Rahmen der vorliegenden Begriffssystematik gebildetes Wort spiel aus
               »Lesenswertem«, d. h. den durch eine kanonisierende Empfehlung ausgewähl-
               ten Texten und den einer Auswahl zugrunde liegenden Bewertungskriterien.
               Von einer Instanz als lesenswert eingestufte Werke oder Bücher spiegeln in
               der Regel diejenigen Werte oder Wertvorstellungen, die der erfolgten Auswahl
               zugrunde lagen. Beispiel: Der konservative Humanist Ranicki empfiehlt seinen
               Lesern die Lektüre der Werke von Goethe und Thomas Mann, also Werke
               der Welt literatur, in denen ein ›konservativer‹ Humanismus selbst wiederum
               stilbildend ist und sogar den Gegenstand der literarischen Darstellung bildet.




                                        »Leserevolution«

                  Der Begriff bezieht das lat. Wort revolutio − wörtlich: Umdrehung (der
               Himmelskörper) − auf die Umwälzungen, die sich mit der Aufklärung innerhalb
               des Buch- und Bildungswesens im Laufe des 18. Jahrhunderts in Mitteleuropa
               vollzogen. Ursprünglich aus der klassischen Mechanik, also der Astronomie,
               auf politische Derivate wie ›glorreiche‹ Revolution, aber auch amerikanische,
               französische, industrielle oder Oktoberrevolution übertragen, beflügelte die
               Revolutionsmetapher zahlreiche Schlüsselbegriffe der modernen Geschichte.
               Man denke etwa an Schlagwörter wie technische Revolution oder Medien-
               revolution. Seit der von Frankreich und England auf die deutschen Länder
               übergreifenden Frühaufklärung an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert
               erlernten breitere Teile der Bevölkerung das Lesen und Schreiben. Darunter
               befanden sich nicht nur gutbürgerliche Vertreter des sogenannten dritten
               Standes, sondern auch einfache Handwerker und Kleinbürger. Die Aufklärer
               reformierten das Schul- und Bildungswesen; pietistische Geistliche bemühten
               sich um die ›nützliche‹ Ausbildung der einfachen Leute auf dem Lande. Mit
               der zunehmenden Alphabetisierung kam es zu einer markanten Steigerung der



                                                                                111
   110   111   112   113   114   115   116   117   118   119   120