Page 140 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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heute noch sind. Man denke nur an Günter Grass’ Roman Grimms Wörter
(2010). Das kodifizierte Alphabet ist aber keineswegs selbstverständlich. So
strukturiert das enzyklopädische Alphabet etwa bei Online-Enzyklopädien wie
Wikipedia lediglich die grafische Oberfläche. Die tatsächliche Anordnung der
Text- und Bildinhalte folgt anderen Prinzipien. Die entsprechenden Stichwör-
ter und Texte sind nummerisch an geordnet, etwa nach Datensatznummern,
und werden dynamisch über kom plexe Tabellen miteinander verknüpft. Das
Alphabet ist hier reine Fiktion und existiert lediglich als Orientierungshilfe
für den Benutzer.
Auch inner halb gedruckter Wörterbücher und Lexika ist das Alpha bet
nicht zwingend. Das zeigt ein Blick in die Geschichte. Eines der ältesten
deutschen Wörterbücher ist der Vocabularius Sancti Galli, datiert auf das
Ende des 8. Jahrhunderts und erhalten in der berühmten Klosterbibliothek von
St. Gallen. Dieses erste Wörterbüchlein ist eine Miniaturhandschrift, umfasst
nur gut 200 Seiten und verzeichnet eine Sammlung lateinischer Wörter samt
ihrer Übersetzungen ins Althochdeutsche. Dieses Urwörterbuch der deutschen
Sprache ist aber gar nicht alphabetisch aufgebaut. Beginnend mit der Welt der
Pflanzen und Gewässer behandelt es den Menschen und dessen Kulturbereiche
vielmehr nach Sinn- und Sachgruppen. Es folgen Wortfelder aus den Themen-
bereichen Tierwelt, Ackerbau, ländliche und dörfliche Kultivation usw. Den
Abschluss bildet die Benennung des Himmels, der Wetterphänomene und der
Jahreszeiten. Erst ein weiteres lateinisch-althochdeutsches Wörterglossar,
der sogenannte Abrogans, führte das Alphabet zumindest ansatzweise ein.
So ist das Wörterbuch auch nach seinem ersten Worteintrag, lat. abrogans,
für alt hochdeutsch dheomodi (›demütig‹) benannt und als Meilenstein in die
Sprachgeschichte eingegangen.
Dass ein Wörterbuch nicht nur alphabetisch funktioniert, zeigt auch ein
modernes Beispiel. So gibt es ein unter Kennern berüchtigtes Wörterbuch des
Schweizerdeutschen und seiner Dialekte. Das Wörterbuch trägt den schönen
Titel Schweizerisches Idiotikon und ist sehr kompliziert aufgebaut. Alpha-
betische und systematische Strukturen erscheinen auf so anspruchsvolle
Weise ver mengt, dass es selbst für Experten eine große Herausforderung
darstellt, in dieser buchstäblich idiotischen (›eigentümlichen‹) Ordnung ein
gesuchtes Wort auch tatsächlich aufzufinden. So benötigt der Nutzer des Idio-
tikons − eigentlich ein ›Verzeichnis der einer bestimmten Mundart eigenen
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