Page 141 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Besonderheiten‹ − einen umfangreichen Leitfaden, der den Leser lehren soll,
               zwischen der »Makro-, Meso- und Mikrostruktur« des dargebotenen Wort-
               schatzes zu unterscheiden.

                  Dies macht deutlich: Die Erfindung des strikten Alphabets als universale
               Form der Anordnung des menschlichen Wissens war sehr innovativ. Eine
               wichtige Station in der Geschichte des Wissens markierte das Jahrhundert-
               werk der Enzyklopädisten im Zeitalter der französischen Auf klärung. Die
               berühmte Encyclopédie von Denis Diderot und Jean LeRond d’Alembert
               erschien erstmals zwischen 1751 und 1780 und verhalf der alpha betischen
               Rationalisierung des Wissens in Europa zum Durchbruch. Nicht um sonst
               lautet der Untertitel dieses Musterwerks aller modernen Lexikonprojekte:
               »Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers«. Die Fügung
               ›Dictionnaire raisonné‹ meint hier soviel wie ›in seiner Struktur dem Aufbau
               der menschlichen Vernunft folgendes, alphabetisches Lexikon‹. Das frz. Wort
               raisonné verweist dabei auf den Versuch der Enzyklopädisten, die rein alpha-
               betische Anordnung des versammelten Weltwissens (dictionnaire) um eine
               nicht alphabetische Systematik zu erweitern. Die sollte ihrerseits dem Aufbau
               der menschlichen Vernunft (raison) folgen. Dies geschah in Form essayisti-
               scher Texte und programmatischer Supplemente, welche die ver schiedenen
               Sach- und Themenbereiche in eine organische Gesamtstruktur ein gruppierten.
               Dieser systematische Ordnungsversuch folgte dem Paradigma vom ›Baum
               des Wissens‹, einem Modell, das die fran zösischen Aufklärer wiederum von
               Francis Bacon (1561-1626) übernahmen, dem englischen Philosophen und
               Vordenker des modernen Empirismus an der Schwelle zwischen Mittelalter
               und früher Neuzeit. Der ›Wissensbaum‹ der Enzyklopädisten geht ursprünglich
               auf Aristoteles und Boëthius zurück und ist nicht zu verwechseln mit dem
               ›Baum der Erkenntnis‹ aus der biblischen Paradieserzählung.


                  Die Durchsetzung des Alphabets geht vermutlich auf Gelehrte im spätanti-
               ken Alexandria zurück. Sie sollen das Alphabet − von den Phöniziern erfunden

               und von den Griechen maßgeblich verbreitet − erstmals als praktisches Ord-
               nungsprinzip verwendet haben (vgl. Olga Weijers: »Funktionen des Alphabets
               im Mittelalter« In: Seine Welt wissen. Enzyklopädien der Frühen Neuzeit, hg.
               von Ulrich Johannes Schneider, Darmstadt 2006, S. 22, Anm. Nr. 1).







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