Page 145 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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ge wählte Name soll – neben anderen Intentionen, die nach den Erkenntnissen
der Sprachwissenschaftler für die Namenswahl ausschlaggebend sind – vor
allem zeitgemäß sein. In den 1950er Jahren, so die Wissenschaftler, waren die
Auswahl kriterien noch viel stärker an familiären oder religiösen Traditionen
orientiert. Spitzenreiter waren damals Vornamen wie Andreas oder Sabine. Die
Praxis der Vergabe von Vornamen hat sich im Zeitalter von Globalisierung
und Migration dy namisch ausdifferenziert. Dies geschah aufgrund eines –
historisch betrachtet – enormen Wachstums der zur Auswahl stehenden Namen
und Namensformen. So kam man im Mittelalter mit einer sehr geringen Zahl
von männlichen Vor namen christlich-germanischer Herkunft für den gesamten
deutschsprachigen Raum sehr gut aus. Diese Tendenz zur Ausdifferenzie-
rung signalisieren spektakuläre Fälle von Eltern, die auf ihren exotischen
Namensvorlieben be harrten. Dabei gerieten sie mit dem vergleichsweise
strengen deutschen Namens recht in Konflikt (und vor Gericht). Aufgrund eines
stetig an schwellenden Auswahlkataloges erlangen die aktuellen Spitzenreiter
unter den deutschen Vornamen also jeweils geringere Anteilsgrade an der
Gesamtmenge aller vergebenen Jungen- bzw. Mädchennamen (heute z. B.
Sophie mit 2 Pro zent; 1967 dagegen Sabine mit 6 Prozent). In Deutschland
existieren derzeit ca. 6.000 Vornamen, davon sind aber mehr als 50 Prozent
nur einmal vergeben.
Das von den Vertretern der GfdS beschriebene ›Spitzenreiter-Phänomen‹
besteht nun darin, dass nach Erreichen einer kritischen Masse von Benennungen
der »anonyme, kollektive Massengeschmack« (Gerhard Müller) gleichsam
umschwenkt zu anderen, neuen Namensformen. Es handelt sich dabei um
eine Gesetzmäßigkeit, die offensichtlich nicht an ein absolutes Quantum −
also ein quasi kanonisches Maß − gebunden ist, sondern lediglich um eine
relative Größe, also eine Häufigkeit im Hinblick auf die kogenerationelle
Namensgebung durch andere Familien. Die statistische Evidenz lässt sich
als Regel formulieren:
»Wird ein Name zu oft vergeben, verliert er an Popularität.«
Diese empirisch registrierbare, theoretisch aber nicht erklärbare Erfahrungs-
regel aus dem Feld der Zuschreibung von Vornamen kann man auch als Ana-
logie auf einen Aspekt der Literaturgeschichte übertragen. Im Zusammenhang
mit den Kanondebatten der 1960er und 70er Jahre, deren Konnex zur kultur-
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