Page 146 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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kritischen 1968er-Bewegung kaum zweifelhaft ist, kam es zu einer funda-
               mentalen Umwertung im Bereich der Klassikerrezeption. Autoren wie Goethe
               oder Schiller wurden als herrschaftsaffirmativ und bürgerlich diskreditiert
               und die Allgemein- oder Alleinverbindlichkeit des klassischen Literaturerbes
               angezweifelt. Die bildungspolitischen Folgen bestanden in einer grundsätz-
               lichen Skepsis gegenüber dem sogenannten bürgerlichen Literaturkanon, ja
               gegenüber Kanonbildungen überhaupt. Das Wort von der deutschen ›Klassik-
               Legende‹, geprägt auf dem Second Wisconsin Workshop (1969/70), bildet bis
               heute das Hintergrundrauschen dieses Umbruchs. Bekanntlich ersetzte die
               etablierte Germanistik in der Folge das nationale Konzept einer ›deutschen‹
               durch den modernen Epochen begriff der ›Weimarer Klassik‹.

                  Nicht durchsetzen konnte sich jedoch eine prinzipielle Kanonabstinenz,
               wie sie einige Kulturrevolutionäre jener Zeit vertraten. Der Sturz der bürger-
               lichen Klassiker begründete vielmehr neue Kanonsetzungen. Die Literatur
               von Frauen, Emigranten oder jüdischer Autoren trat an die Stelle der Autoren
               des bürgerlichen Literaturkanons. Mit einigem zeitlichen Abstand wurden
               schließlich die theoretischen Vordenker der Studentenbewegung selbst zu
               ›Klassikern‹ stilisiert. Man denke nur an den auch sprachlich greifbaren
               Adorno-Kult oder die epochale Stilisierung der Kritischen Theorie oder der
               Frankfurter Schule im Nachhinein. In gewisser Hinsicht gelangte der Begriff
               des ›modernen Klassikers‹ überhaupt erst zu seinem Recht. Von linkskriti-
               scher Seite geschah dies in ähnlicher Weise, z. B. in Form der Kanonisierung
               Hermann Hesses durch die Hippie-Generation, wie auf Seiten der kulturkon-
               servativen Literaturkritik − man denke nur an die In thronisierung Thomas

               Manns durch Marcel Reich-Ranicki. Die Mode der so genannten Mao-Bibel
               aktualisierte den Kanonbegriff sogar in seiner ureigen sten Bedeutung. Das
               Phänomen ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein ideologischer Personenkult
               mit der quasi religiösen und pseudoliterarischen Kanonisierung eines großen
               Führers verschmilzt.


                  Überträgt man die aus der statistischen Namensforschung gewonnene
               Zuschreibungs regel auf den politischen Umbruch der 1968er Jahre, so ergibt
               sich folgende ›quantitative Kanonregel‹ für die Zuschreibung, welcher Autor
               bzw. welches Werk für welche Zeit als ›klassisch‹ zu gelten habe:







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