Page 149 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Zudem kam es zu einer Fülle von analogen Bildungen, wie etwa ›Elb-
               florenz‹ für Dresden oder auch Wortbildungsvarianten, wie z. B. das dimi-
               nutive ›Klein-Paris‹ (ebenfalls für Leipzig). Der ›verkleinernde‹ Vergleich
               zwischen Leipzig und Paris war bereits zur Goethezeit üblich. Schon in einem
               Jugendbrief Goethes an seine geliebte Schwester Cornelia − modisch kokett
               auf Französisch verfasst − kommt ein solcher Vergleich zwischen sächsischer
               Großstadt und der französischen Metropole vor, und zwar unter dem erschlos-
               senen Datum vom 30. März 1766. Schließlich sollte Paris später einmal als
               »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« beschworen werden. Gerne wird in diesem
               Kontext auch die berühmt-berüchtigte Szene in Auerbachs Keller im ersten
               Teil des Faust zitiert. Bei dessen deftigem Auftritt lässt Goethe seine Figur
               des Frosch über die Universitätsstadt Leipzig das Folgende sagen: »Mein
               Leipzig lob’ ich mir! / Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.« (Faust I,
               Verse 2171f.; zuerst in: Faust. Ein Fragment, Vers 648; 1790) Hier verwendet
               Goethe bereits den allgemein eingeführten Beinamen. Nachweisbar ist die
               Be zeichnung ›Klein-Paris‹ für Leipzig im Übrigen schon in Reiseführern
               seit Ende der 1760er Jahre. Die lobenden Städtenamen sind in diesem Fall
               also ein typisches Produkt der Globalisierung des Reiseschrifttums durch die
               touristische Gebrauchsliteratur des 18. Jahrhunderts.


                  Ernste und scherzhafte Verwendung solcher Stadtetiketten sind im heutigen
               Sprachgebrauch schwer zu trennen. Offenbar werden bei diesem Sprach-
               phänomen bestimmte Aufwertungsstrategien produktiv. So bezeichnet der
               Sprach enthusiast Richard Deiss die vergleichenden »Städtebeinamen« auch
               salopp als »Synonymstädte« (Richard Deiss a. a. O., S. 3 sowie 6ff.). Wohl zu
               Recht stellt er fest, dass die frappierende Vielzahl und Varianz heute gängiger
               »Stadt klischees« zu einem überwiegenden Teil »von der Tourismuswirtschaft
               generiert und aufgegriffen« werde (Richard Deiss a. a. O., S. 6). Der Volks-
               mund, so Deiss, sei im Hinblick auf die Neubildung eher zurückhaltend.
               Deiss macht also für die Entstehung verklärender Stadtvergleiche in erster
               Linie die Werbetexter der modernen Tourismusindustrie verantwortlich.
               Denn die hätten ein ökonomisches Interesse an schmeichelhaften Vergleichen
               für deutsche Städte und Stadtlandschaften. Schließlich sollen ausländische
               Be sucher möglichst zahlreich nach Deutschland reisen und den Deutschen
               selbst ihr eigenes Land schmackhaft gemacht werden. Steckt eine solche,
               zu mindest auf den ersten Blick ›unsichtbare‹ Hand auch hinter der Entste-
               hung historischer Etikettierungen? National gesonnene Literaturhistoriker



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