Page 150 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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und Kulturpatrioten wollten das Ansehen ihrer geistigen Heimatstädte
               möglicher weise ganz bewusst mit Vergleichsbildungen wie Spree-Athen für
               Berlin oder →Ilm-Athen für Weimar nobilitieren, um deren Ruhm zumindest
               sprachlich unsterblich zu machen. Die Erfindung solcher Städtebeinamen wäre

               also nicht nur schöne Poesie, sondern dahinter steckte vor allem immer auch
               ein gerüttelt Maß an Berechnung.


                  Demgemäß gilt zumindest für ›Spree-Athen‹ mit an Sicherheit grenzender
               Wahrscheinlichkeit: Preußische Nüchternheit und Berliner Schnauze lösten die
               Bezeichnung schon früh aus ihrem unmittelbaren Entstehungs kontext − Rheto-
               rik und Diktion des Herrscherlobs − um sie spontan ins Ko mische zu wenden.
               Aus Sicht der historischen Semantik muss möglicherweise offenbleiben, ob
               die bildhafte Fügung überhaupt jemals im Volksmund affirmativ im Sinne
               ihres Erfinders Erdmann Wircker und damit ohne jegliche ironische Distanz
               verwendet wurde. Daher erscheint es nur folgerichtig, wenn der Wortsammler
               Deiss eine frappierend moderne Verballhornung in seinen Katalog der Städ-
               tebeinamen übernimmt. So beschließt er seine Auf stellung zu ›Athen‹, die
               immerhin 21 städtische Bezugsvarianten umfasst, mit einem dankenswerten
               Hinweis, allerdings leider ohne einen konkreten Beleg: »Angesichts vieler
               Graffiti-Künstler in der Stadt wurde der Beiname auch schon zu Spray-Athen
               verballhornt.« (Richard Deiss a. a. O., S. 30)



                                         »Sternstunden«


                  Titelgebender Begriff von Stefan Zweigs weltliterarischer Darstellung
               ge schichtlicher Begebenheiten, die seiner Ansicht nach von epochema-
               chender Bedeutung für die Kultur- und Literaturgeschichte der Menschheit
               gewesen seien (Sternstunden der Menschheit, 1927). Es handelt sich dabei um
               14 Prosa-Miniaturen zu historischen Personen und Ereignissen im weitesten
               Sinne, wobei er Goethes Marienbader Elegie bereits an zweiter Stelle nennt,
               und zwar als das – neben Dostojewskis Biografie – einzige im engeren Sinne

               literarische ›Ereignis‹ von weltgeschichtlicher Geltung.










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