Page 147 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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»Wenn ein Autor oder ein Text von zu vielen Autoritäten zu häufig als mustergültig
                  vorgegeben wird, verliert er an Attraktivität.«

                  In Analogie zur ›kritischen Masse‹ bei der Vornamenswahl ergäbe sich also
               mit Bezug auf die Literaturgeschichte eine kritische Zeitspanne, innerhalb
               derer die kanonische Attraktionskraft eines Autors oder eines bestimmten Para-
               digmas gleichsam verfiele. Legt man als Erstbeleg für die Erhebung Goethes
               und Schillers in den Rang eines kanonischen Dichterpaares das (erstmals) mit
               »Schiller und Goethe« überschriebene Kapitel aus einer Literatur geschichte
               des 19. Jahrhunderts zugrunde – Georg Gottfried Gervinus’ Geschichte der
               poetischen National-Literatur der Deutschen (1835/42) – dann ergibt sich in
               etwa eine Zeitspanne von etwas über 130 Jahren für die Phase der Aufrecht-
               erhaltung des kanonischen Paradigmas. Aus der Übertragung solcher Präfe-
               renzregeln könnte man weitere Kanonzyklen ableiten, etwa als Ausgangs punkt
               für eine quantitative Klassikertheorie (Der vorangehende Stichwort-Eintrag
               ›Spitzenreiter-Phänomen‹ stellt eine wörtliche Übernahme einer Passage aus
               der folgenden Aufsatzpublikation des Verfassers dar: R. Charlier: Evolutive
               Kanonbildung? In: Gansel/Vanderbeke 2012, hier insbesondere S. 271-273;
               s. in der Bibliografie, unter Punkt A.II.1).




                                           Spree-Athen

                  Auf den märkischen Dichter Erdmann Wircker zurückgehender Beiname
               für Berlin als preußische Residenz- und Garnisonsstadt (seit 1709). Die
               Wort prägung stammt aus einem Lobgedicht auf Friedrich I. von Preußen und
               datiert auf das Jahr 1706. Sie entspringt dem Textgenre des Herrscher- oder
               Städtelobs, also der sogenannten Panegyrik: »Die Fürsten wollen selbst in deine
               Schule gehen | Drumb hastu auch für sie ein Spree-Athen gebauet« (vgl. die
               Anthologie Märckische Neun Musen, welche sich unter dem großmächtigen
               Schutz Sr. Königl. Majestät in Preußen als Ihres Allergnädigsten Erhalters
               und andern Jupiters bey glücklichen Anfang Ihres Jubel-Jahres auff dem

               Franckfurtischen Helicon frohlockend aufgestellet, 1706). Im kollektiven
               Ge dächtnis wurde dieser wohl berühmteste Beiname der preußischen Metropole
               allerdings später vor allem auf das kulturelle Vermächtnis von Friedrich II.
               der Große (1712-1786) und seine Epoche bezogen. Für die Vorstellung von
               Spree-Athen kommt einem eher das Erbe der Tafelrunde auf Schloss Sans-
               souci, Friedrichs Freundschaft mit Voltaire oder die Errungenschaften der



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