Page 151 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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»Sub omni canone«
Lateinische Redewendung, die in der Form »unter aller Kanone« in die
deutsche Umgangssprache gelangte. Genau genommen stellt die deutsche
Form nicht einmal eine echte Verballhornung des lateinischen Originals dar.
Vielmehr gibt sie den lateinischen Ablativ korrekt wieder, auch wenn die
semantische Zuordnung zum Signifikat/Denotat ›Kanone‹ (Feuerwaffe der
Artillerie) zunächst befremdet und einen Lapsus nahelegt. Aber etymologisch
verfährt hier der Volksmund – abgesehen vom Kasuswechsel zwischen lat.
sub und dt. unter auch bei genauerer Betrachtung sprachlich korrekt. Denn
lat. canon geht, wie bereits mehrfach erwähnt, auf altgriech. hò kanōn zurück
(Betonung auf der zweiten, lang vokalisierten Silbe), zu deutsch →Kanon
(Betonung auf der ersten Silbe). Die altgriech. Wurzel ist eine Entlehnung
aus dem (Alt-)Semitischen, woher das Wort seine ursprüngliche Bedeutung
bezieht im Sinne von (pflanzliches) Rohr oder Rohrstab. Aus dieser Semantik
resultiert die abgeleitete Be deutung im Sinne von Maßstab, Muster, Richt-
maß, auch: Regel oder Regel werk. Die semitische Wortwurzel ist in den
modernen germanischen und ro manischen Sprachen lebendig, wie etwa im
ital. Wort canna, für Rohr. Die Übertragung auf das ›feuernde Rohr‹ und die
metonymische Verwendung für die militärische Waffe − die ›Kanone‹, das
artilleristische Geschütz − bietet in der Bedeutungs geschichte der modernen
Sprachen ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie aus einer ganz konkreten
Urbedeutung eine Fülle von Übertragungen resultiert, die auf eine einzige
Wortwurzel verweisen. Aus dem Rohr zum Messen, Wiegen, Zählen wird der
Maßstab, das Muster, das Vorbild – wir würden heute sagen: ›der Standard‹. In
der deutschen Rede wendung bleibt jedenfalls der Bezug zur jahrhundertealten
Bedeutung im Sinne von Maßstab, Standard gewahrt. »Unter aller Kanone«
heißt nämlich ›unterhalb aller Bewertungsmaßstäbe‹, ›unter den Mindestan-
forderungen oder -erwartungen liegend‹, ›unter‹ oder ›hinter den Standard
zurückfallend‹. Aus dem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes ergibt
sich sogar ein gemein samer Anwendungsbereich mit seinem begrifflichen
Pendant aus Bildungs forschung und Hochkultur, wenn wir etwa ein geistiges
Niveau oder einen Text als »unter aller Kanone« abqualifizieren.
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