Page 153 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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währte diese Phase fast 11 Jahre. In der zeitlichen Unschärfe offenbart sich
               das Kerndilemma dieser – und letztlich jeglicher – Epochenbildung. Das
               definitorisch Wesentliche, wie etwa enge persönliche Beziehungen und weit-
               gehende inhaltliche oder programmatische Übereinstimmungen zwischen den
               Epochenvertretern, ist zumeist nur schwer auf einen zusammenhängenden
               Zeit raum zu verengen. So gilt das Verhältnis zwischen Goethe und Schiller
               in den Jahren von 1794 bis 1805 zwar als intensiv und enorm produktiv. Eine
               wirklich singulär zu nennende Arbeitsbeziehung oder Werkkorrespondenz
               mit den an deren Protagonisten des klassischen Weimar lässt sich für diesen
               Zeitraum jedoch nicht nachweisen. Die Nähe Goethes zu einem Vertreter der
               Berliner Spätaufklärung wie Karl Philipp Moritz (1756-1793) bildet dagegen
               eine bemerkens werte Symbiose, manifest im gemeinsam verfassten Kunst-
               programm Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788). Goethe nannte
               Moritz sogar einen »jüngeren Bruder« im  Geiste. Aber diese Zusammenarbeit
               und Wechselinspiration vollzog sich hauptsächlich in Italien und damit fern
               des Weimarer Kosmos’.

                  Wesentlich für das Verständnis der Weimarer Klassik ist daher die Tat-
               sache, dass es auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutscher
               Na tion zum Ende des 18. Jahrhunderts eine ganze Gruppe von Fürstenhöfen
               gegeben hat, an denen Adel und Bürgertum zusammenwirkten, so dass ein
               reges kulturelles Leben sich zu entfalten vermochte. Exemplarisch seien
               nur die Höfe von Arolsen, Braunschweig, Darmstadt, Gotha, Stuttgart oder
               Potsdam genannt. Aufgrund der dynastischen Verbindungen jener Zeit war
               das Herzogtum Weimar-Sachsen-Eisenach über Anna Amalia und ihren Sohn
               Carl August mit einer Vielzahl zeitgenössischer Höfe im deutschen Reich und
               Europa ver woben. So blieb Anna Amalia zeitlebens dem elterlichen Hof des
               Hauses Braunschweig-Wolfenbüttel eng verbunden. Als Nichte Friedrichs
               des Großen betrachtete Anna Amalia den Potsdamer Hof als inspirierenden
               Bezugspunkt. Mit dem Hofwesen von Hessen-Darmstadt ergaben sich zudem
               zahlreiche Bezüge und Einflüsse aus Goethes Freundschaft mit Johann

               Heinrich Merck (1741-1791). Zu einem Vertreter des Arolser Ho fes erhielt
               Goethe wiederum auf seiner Italienreise Kontakt. Im Jahr 1787 traf Goethe
               Prinz Christian August von Waldeck-Pyrmont (1744-1798), seines Zeichens
               Sohn von Carl August Friedrich zu Waldeck und Pyrmont und seiner Ehefrau
               Christiane Henriette von Zweibrücken-Birkenfeld.





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