Page 58 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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digma oder hermeneutische Metapher. Die ›spezielle‹ Evolutionstheorie zielt
               dagegen ab auf das wissenschaftsgeschichtlich genau datierbare Phänomen
               der von Wallace und Darwin formulierten Theorie, wie sie in einem historisch
               fest umrissenen Korpus von Notizen, Briefen, Fachartikeln und Schriften
               niedergelegt wurde. Hierbei handelt es sich um die eigentliche Darwinsche
               Evolutionstheorie, den ›Darwinismus‹ im engeren Sinne.


                  Charles Robert Darwin, am 12. Februar 1809 im englischen Shrewsbury
               in der Grafschaft Kent geboren, veröffentlichte sein Jahrhundertwerk der
               theoretischen Biologie On the Origin of Species (Ȇber die Entstehung der
               Arten«) am 24. November 1859. Damit war das auf vielen medialen Kanälen
               zelebrierte Darwinjahr 2009 bekanntlich ein doppeltes Jubiläumsjahr mit
               Blick auf den neben Albert Einstein und Sigmund Freud wohl bedeutendsten
               Naturwissenschaftler der Moderne. Der 200. Geburtstag des Naturforschers
               und das 150. Erscheinungsjahr seines Schlüsselwerks fielen zusammen.


                  Die Evolutionstheorie hat in ihrer 150-jährigen Geschichte eine vielfältige
               Vor- und Rezeptionsgeschichte aufzuweisen. Unter die Deuter und Exege-
               ten des großen Naturwissenschaftlers zählen so berühmtberüchtigte Namen
               wie William Charles Wells (1757-1815), Étienne Geoffroy Saint-Hilaire
               (1772-1844), Karl Ernst von Baer (1792-1876), Richard Owen (1804-1892)
               und Ernst Haeckel (1834-1919). Zudem erfuhr Darwins Lehre zahlreiche
               Modifikationen, z. B. im sogenannten Lamarckismus, und es erfolgten heute
               obsolet gewordene ›ethische‹ Übertragungsversuche, wie beispielsweise im
               sogenannten Sozialdarwinismus. Innerhalb der Naturwissenschaften hat der
               Evolutions gedanke zudem als basale und universale Theorie des biologischen
               Lebens auf der Erde eine immense Fülle von Erweiterungen erfahren, die
               weit über ihren Ursprung in der Biologie hinausreichen. So findet die Evo-
               lutionstheorie Anwendung in der Hirnforschung (Neurophysiologie) oder in
               den Kognitions wissenschaften (Psychologie). Dabei werden physiologische
               und psychologische Prozesse materiell vermessen, statistisch ausgewertet und
               auf ihre evolutionstheoretische Beschreibbarkeit untersucht.

                  Eine völlig andere Dimension des Theorietransfers stellen dagegen Ver-
               suche dar, evolutive Theoreme auf kulturelle Prozesse zu übertragen. Denn
               bei der evolutionstheoretischen Betrachtung von Entwicklungen innerhalb
               der menschlichen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte verkürzen sich die



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