Page 59 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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für Evolutionsprozesse notwendigen Zeitabläufe von naturgeschichtlichen
auf kulturgeschichtliche Dimensionen. Aussagen, die für die biologischen
Transformations prozesse von Jahrmillionen gelten, werden reduktionistisch
auf die schmale Menscheitsgeschichte übertragen, die sich – als Kulturge-
schichte im engeren Sinne – bestenfalls nach einigen Jahrtausenden bemisst.
Dies führt entweder zu einer grundsätzlichen Fragwürdigkeit der vollzogenen
Analogie bildungen. Oder man räumt auf der methodischen Ebene ein, dass
es sich dabei lediglich um einen metaphorischen Vergleichsakt handelt. Das
führt einerseits zu esoterischen und im streng wissenschaftlichen Sinne nicht
mehr seriösen Theorie-Adaptionen wie dem modischen Diskurs um eine
sogenannte Kulturelle Evolution. Zum anderen aber ergeben sich daraus
interessante Fragestellungen an wichtigen Schnittstellen zwischen Mensch
und Natur, so etwa in der Soziobiologie.
Theoreme und Konzepte der klassischen Evolutionstheorie finden sich
in vielen sozial- und geisteswissenschaftlichen Denkschulen, so z. B. in der
Systemtheorie oder innerhalb der kognitiven Literaturwissenschaft. Die vielen
sekundären An- und Überlagerungen des ursprünglich auf Darwin, Wallace
und ihre Vorläufer oder Anreger wie Adam Smith oder Robert Malthus zurück-
zuführenden Gedankengutes haben in der jüngeren Forschung dazu geführt,
dass oftmals nicht mehr die Theorieväter selbst zur Herleitung evolutiver
Hypothesen zitiert werden, son dern lediglich ihre modernen Adepten und
Ausdeuter. Im Falle Darwins sind dies vor allem die Vertreter der sogenann-
ten synthetischen Evolutionstheorie nach Ernst Mayr (1904-2005). Dadurch
hielt der ›Evolutionismus‹ als eine Art Universal- oder Metatheorie zugleich
Einzug in die Fachdiskurse zahlreicher Wissenschafts disziplinen. Diese
Tendenz zur indirekten Klassikerzitation offenbarte sich bereits sehr früh in
der Rezeptionsgeschichte der klassischen Evolutionstheorie. Seinen deutlichen
Niederschlag findet dieser Trend auch in der Übersetzungsgeschichte von
Darwins Klassiker der Naturwissenschaften. So bezog sich z. B. der chinesi-
sche Darwin-Übersetzer Yan Fu (1853-1921) maßgeblich auf Thomas Henry
Huxleys Evolution and Ethics von 1890, das er unter dem Titel Tianyan Lun
(»Über die Evolution«) als erster ins klassische Chinesisch übersetzte (vgl.
Wenchao Li: »Von der ›Evolution‹ zum ›Jinhua‹. Die chinesische Übersetzung
von Huxleys ›Evolution and Ethics‹«. In: Asmuth/Poser 2007, S. 107-124,
hier insbesondere S. 107ff.). An diesem Beispiel wird deutlich, dass bereits
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