Page 60 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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in der unmittelbar postumen Darwin-Rezeption nicht die Originalschriften
               des Meisters, sondern dessen Interpreten und Exegeten das Feld beherrschten.



                                        Exokanonisierung


                  Der Begriff charakterisiert jene geisteswissenschaftliche Grundlagenfor-
               schung im deutschsprachigen Raum, die außereuropäische Sprachen, Litera-
               turen und Kulturen systematisch erschließt. Dabei handelt es sich etwa um die
               Edition von Texten oder In schriften sowie die Herausgabe von Wörterbüchern
               zu exotischen, historischen oder toten Sprachen. Eine der bedeutendsten
               Institutionen dieser Form von Kanonisierung des Fremden oder Entfernten
               bilden die Forschungs vorhaben im Rahmen des Akademienprogramms des
               Bundes und der Länder der Bundesrepublik Deutschland. Auch die ›kleinen‹
               Philologien an den deutschsprachigen Universitäten sind Ort der intensiven
               Pflege von →Fremdkanons. Man bedenke in diesem Kontext speziell die
               sogenannten »kleinen Fächer« (→Orchideenfächer). Exokanonisierung
               bezieht sich in erster Linie auf Überlieferungen, die im kulturellen Gedächtnis
               historisch zurückliegen. Ein gutes Beispiel aus dem Bereich der sogenannten
               ›toten‹ Sprachen bildet das Provenzalische. Als kultursprachliches Erbe
               rekonstruiert und kodifiziert, bildet diese romanische Literatursprache eine

               unverzichtbare Korpusgrundlage und Referenz für historische Wörterbücher
               zum Altspanischen, Altfranzösischen und Altokzitanischen. Ein Beispiel
               für die Exokanonisierung des (zeitlich wie geografisch) ›fernen Fremden‹
               bildet das Akademievorhaben Turfan-Forschung. Das Unternehmen widmet
               sich einer Gruppe von manichäisch-gnostischen Texten, die in etwa seit dem
               2. Jahrhundert n. Chr. auf dem winzigen Gebiet der sogenannten Turfan-
               Oase in Ostturkistan am Rande der berühmten Seiden straße in Form von
               Papyrusfragmenten hinterlassen wurden. Die Oase liegt auf dem heutigen
               Staatsgebiet der Volksrepublik China, im verwaltungstechnisch so bezeich-
               neten Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjang. Die Turfantexte gehören in
               ihrer Mehrzahl zur mitteliranischen Sprachfamilie. Aber auch griechische,
               indische und chinesische Textzeugen wurden in Turfan gefunden. Das verleiht
               diesem Ort eine wichtige Funktion für das Verständnis des Kulturkontakts
               im vor islamischen Zentralasien zur Zeit der Spätantike.







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