Page 61 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Fächerkanon


                  Zuschnitt und Zahl der Fächer, wie sie heute an Schulen und Universitä-
               ten der westlichen sowie der westlich geprägten Welt gelehrt werden, gehen
               im Kern auf die antike Tradition der Artes liberales zurück. Spätantike und
               Mittelalter verstanden darunter die sieben ›freien‹ Künste, also diejenigen
               höheren geistigen und praktischen Betätigungen, die nur ein freier und damit
               höher gestellter Mann ausüben konnte − allerdings im besten Sinne auch
               sollte. Das Unterrichtswesen der griechischen Antike kannte ursprünglich
               nur gymnasiale Leibes- und musische Erziehung. Erst Aristoteles brachte
               Grammatik und Rhetorik sowie Mathematik und Musik als Ergänzung ins
               Spiel. Damit be gründete er ein Fundament, auf dem die Römer mit ihrem
               humanistisch-lateini schen Bildungsethos nachhaltig aufbauen konnten. Im
               Zeitalter des Hellenis mus und des frühen Christentums schwankte die Zahl
               der Artes je nach Quelle zwischen fünf, sechs und sieben. Der römische
               Enzyklopädist Martianus Capella (wohl 5. oder frühes 6. Jahrhundert n. Chr.)
               prägte dabei erstmals den Begriff der artes liberales. Erst seit der Zeit des
               Kirchenvaters Augustinus (354-430) gilt die Siebenzahl als kanonisch. Bei
               Isidor von Sevilla (um 560-636) erscheinen die sieben freien Künste dann
               erstmals als System der Bildung (Etymologiae; 623). Unterschieden wurden
               das sogenannte Trivium, das die sprachlichen Disziplinen umfasste, und das
               Quadrivium, als Gruppe der mathematischen Künste. Nach antiker Vorstel-
               lung umfasste das Trivium als ›Bildungsweg der drei‹ die Fächer Grammatik,
               Rhetorik und Dialektik (lat. trés, tria: ›drei‹ und lat. via, hier im Sinne von
               ›Vorgehen, Verfahren, Methode‹). Das Trivium ist also im Kern ein Vorläufer
               unserer heutigen Sprach- und Geisteswissenschaften. Das Quadrivium, der
               Vierweg (lat. quattuor: vier), bestand aus Arithmetik, Geometrie samt Geo-
               grafie, Astronomie und Musik (mit Physik), bildete also die Vorform unserer
               heutigen Naturwissenschaften. Das Trivium sollte grundlegende Fertigkei-
               ten vermitteln, angestrebt wurde vor allem ein mustergültiger Ausdruck in
               Wort und Schrift. Dagegen orientierte sich das Quadrivium eher am Ideal
               einer universellen gei stigen Bildung. Dieser Unterschied zwischen Trivium
               und Quadrivium lebt in der Struktur des modernen westlichen Bildungs-
               wesens fort, so etwa im Unter schied zwischen Grundstudium und Haupt-
               studium oder zwischen universitärer Lehre und akademischer Forschung.
               Wenn man einräumt, dass das materielle Übergewicht bei der Finanzierung
               moderner Universitäten sowie der außer universitären Forschung mit weitem



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