Page 62 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Abstand bei den Naturwissenschaften liegt, so lässt sich ein solch tendentieller
Antagonismus auch insgesamt erken nen, und zwar als Gewichtung von Trivium
(sprachlich-philosophische Bildung als Ausdruck einer Autonomie des Sub-
jekts) versus Quadrivium (als Ausbildung im Dienste praktisch-ökonomischer
Nützlichkeit). Die weitere Ausdifferenzierung der mo dernen Wissenschafts-
disziplinen erfolgte erst in der Folge der französischen Aufklärung in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Denn mit dem definitiven Ende des
Universalgelehrtentums eines Leibniz oder Goethe war der Weg frei für die
immense Spezialisierung der modernen Fachwissenschaften. Während sich
der geisteswissenschaftliche Fächerkanon mit der Entstehung der nationalen
Philologien im 19. Jahrhundert stabilisierte, hält die naturwissenschaftliche
Fächerbildung bis heute an. Der sich stetig beschleunigende Fortschritt in
Forschung und Technik entfaltet dort ein ganzes Fächerspektrum, das sich
permanent um neue Teildiszplinen ergänzt.
Fremdkanon, Fremdkanons
Der Begriff be zeichnet vornehmlich Schriftzeugnisse der Weltkultur,
die in einer - aus Sicht der kanonisierenden - Instanz ›fremden‹ Sprache
abgefasst sind oder einer historisch vergangenen Sprachstufe angehören.
Fremdsprachige Texte bedürfen daher in der Regel der Übersetzung oder
angemessenen Übertragung. Ein Beispiel aus dem Bereich der religiösen
Kanonbildung bildet das Projekt Corpus Coranicum. Dabei handelt es sich
um die philologische Auf arbeitung der überlieferten Schrifttradition des
Korans nach den Methoden der historisch-kritischen Textwissenschaft. Eine
kommentierte Dokumentation des koranischen Textes soll erarbeitet und in die
europäische Religionsgeschichte eingeordnet werden. Ein historisches Bei-
spiel aus dem Bereich der literarischen Kanonbildung repräsentiert Goethes
berühmte Anverwandlung persisch-arabischer Dichtung im Rahmen seines
West-östlichen Divan (→Exokanonisierung). Das skizzierte Übertragungs-
problem stellt sich bei der Kanonisierung von nicht sprachlichen Artefakten
wie Skulpturen oder Bildern indes nur mittelbar. Eine hellenistische Statue
kann man in einem Museum ausstellen, betrachten und in gewisser Weise
auch verstehen, ohne dass es un mittelbar einer Übersetzung im sprachlichen
Sinne bedarf. Dies gilt natürlich nur dann, wenn man von etwaigen Werktiteln,
Inschriften oder kulturell be dingten Attributen, Symbolen oder in ähnlicher
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