Page 63 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 63
Weise Zeichenhaftem absieht. Ein gutes Beispiel für die Wahrnehmung von
Fremdkanons ohne sprachliche Übersetzungsleistung bildet die weltweite
Verbreitung des Musikkanons der europäischen Klassik. Gemeint ist die
Instrumental- und Vokalmusik der klassisch-romantischen Periode Europas
von etwa 1750 bis 1850, die in der globalisierten Weltgesellschaft mehr oder
weniger unangefochten als In begriff von ›Klassik‹ oder ›klassischer Musik‹
rezipiert wird. Fast könnte man von einer sehr weitgehenden Kongruenz
der Phänomene Wiener Klassik (im weitesten Sinne), europäische musika-
lische Klassik und Klassik in der Weltmusik sprechen. Für die Mehrheit der
Weltbevölkerung wird der Genuss der Musik eines Bach, Händel, Haydn,
Mozart oder Beethoven allerdings stets die ›Wahrnehmung eines kulturellen
Fremdkanons‹ darstellen.
Geheimtipp
Das Wort ›Tipp‹ ist seit dem 19. Jahrhundert als Entlehnung aus dem
Englischen nachweisbar, also ein noch vergleichsweise junges deutsches
Wort. Nach engl. tip im Sinne von ›Spitze, Anstoßen‹ gebildet, bedeutet
das Wort ursprünglich ›Hinweis auf eine Gewinnmöglichkeit beim Pferde-
rennen‹ (nach Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen,
23. Aufl., 1995, S. 825). Die Zusammensetzung Geheim-Tipp ist dagegen
noch so neu, dass sie in standardsprachlichen Wörterbüchern so gut wie gar
nicht zu finden sein dürfte. So dokumentiert der Google Ngram Viewer −
mit Bezug auf das von Google digitalisierte deutschsprachige Buchkorpus
− für den Wortvergleich von »Tipp« versus »Geheimtipp« ein sprunghaftes
Wachstum der Verwendungs häufigkeit seit etwa Mitte der 1990er Jahre. Die
Verwendung des Kompositums (Geheimtipp) ist zwar ungleich seltener als der
Gebrauch des Simplex’ (Tip/Tipp). Auch der Anstieg der um ein Vielfaches
geringwertigeren Kurve von ›Geheimtipp‹ ist wesentlich flacher. Dennoch
scheint der Verwendungs erfolg beider Wörter bis etwa zur Jahrtausendwende
in gegensei tiger Abhängigkeit gewachsen zu sein. Eine mögliche Erklärung
dieses Frequenzanstiegs: Von etwa 1995 bis zum Kollabieren der ersten großen
Spekulations blase um die sogenannte New Economy im Jahr 2000 vollzog
sich die erste Kulminationsphase der digitalen Medienrevolution. Die zweite
Hälfte der 1990er Jahre war durch eine rasrant boomende Empfehlungskultur
im Internet geprägt, in der es von Tipps und Tippgebern in allen Bereichen nur
59