Page 64 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 64

so wimmelte. Vom Reisemarkt über die Buchbranche bis zu den Aktienmärkten
               und der Finanzwirtschaft − durch den sprunghaften Anstieg global verfügbarer
               Informationen boten die Ratgeber und (selbsternannten) Experten nur zu oft
               das einzige Mittel zur Orientierung. Diese Kultur der Tippgeber schlug sich
               in entsprechenden Büchern und ›Ratgebern‹ nieder, was den steilen Anstieg
               der Nachweiskurve bei Google erklären würde.


                  Eine besondere Form des veröffentlichten (also exoterischen) Tipps ist
               der mit dem Anspruch esoterischer Exklusivität veredelte ›Geheimtipp‹. Im
               Gegensatz zum Tipp, der schlicht ein Optimum im materiellen Sinne ver-
               spricht (etwas als Synonym zu ›Schnäppchen‹), verheißt der Geheimtipp eher
               ästheti schen oder ›kultigen‹, also irrationalen und damit weniger messbaren
               Mehrwert. So verweist der Geheimtipp vor allem auf kulturelle Objekte und
               Werte, die sich erst aufgrund eines höheren oder tieferen Wissens erschließen.
               Nur ›Eingeweihten‹ erschließt sich dabei der ›wahre Wert‹. Zum Geheimtipp
               wird beispielsweise eine Kneipe nicht allein wegen ihrer niedrigen Preise,
               sondern aufgrund ihrer Kiezlage oder ihres unverwechselbaren Szenepubli-
               kums. Auch ein Konzert oder ein Film taugen zum Geheimtipp. Ihnen eignet
               dann etwas Einzigartiges und Unverwechsel bares, das über den Rahmen des
               Massengeschmacks oder sogenannten Mainstreams hinausgeht. Auch hält
               sich ihr Aufführungsrahmen in bestimmten Grenzen, z. B. was die Größe
               des Publikums anbelangt. Der ›literarische Geheimtipp‹ ist eine weitere
               Unterform. Ihn kennzeichnen Merkmale wie etwa regionale Reichweite eines
               Autors oder Werkes sowie die Tendenz zum Noch-nicht-Arrivierten (»ein
               literarischer Geheimtipp mit Undergroundappeal«, wie es in einem kursorisch
               mithilfe von Google Book Search ermittelten Zitatbeleg heißt). Dabei enthält
               der literarische Begriff des Ge heimtipps auch einen perspektivischen Aspekt.
               Er kann nämlich gleichsam mit Blickrichtung ›nach oben‹ oder ›nach unten‹
               verwendet werden. Das verdeutli chen die folgenden idealtypisch verkürzten
               und daher verallgemeinerbaren Beispielzitate aus dem Buchkorpus von Google
               Book Search (GBS): Verwendung des Wortes Geheimtipp mit Blickrichtung
               nach oben: »Brecht gilt von nun an als literarischer Geheimtipp.« Oder: »Der
               Roman wird auf der Frankfurter Buch messe als literarischer Geheimtipp gehan-
               delt.« (GBS) In diesen Fällen haben Autor und Werk bereits ein bestimmtes
               Mindestmaß an Aufmerksamkeit erzielt. Ihre Chancen auf einen Durchbruch
               oder sogar Einzug in die Bestsellerlisten bzw. in den Kanon stehen gut. Dem
               entgegen steht die Verwendung des Begriffs mit Blick nach unten: »Trotz



               60
   59   60   61   62   63   64   65   66   67   68   69