Page 67 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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münzte neben berühmtgewordenen Termini wie Weltliteratur eine Fülle von
›globalisierungsbewussten‹ Begriffen ante terminem. Goethe beobachtete die
beschleunigte Transformation der altständischen Welt seiner Kindheit eher
skeptisch und sprach mit Blick auf die Globalisierungsdynamik des beginnen-
den 19. Jahrhunderts überaus vorausschauend von Phänomenen und Prozessen
wie Weltbegebenheit, Weltbund, Weltbürger, Weltepoche, Weltereignis, Welt-
geist, Weltgeschäft, Weltgeschichte, Welthandel, Welthauptstadt, Weltordnung,
Weltregierung, Weltsprache, Weltverfassung oder Weltverkehr. Nicht umsonst
zitiert der Historiker Nolte im Motto seines Kapitels über »Revolutionen«
zugleich Goethe (ebd., Kapitel 15, S. 309). Dies geschieht unabhängig vom
Wortlaut des dort angeführten Faustzitats insofern zu Recht, als Goethe in
der jüngeren Forschung häufig als Prophet und Skeptiker der Globalisierung
be müht wurde. Einschlägige Definitionen der rasanten Umbruchsphänome,
die in den 1990er Jahren zum Motor so gut wie sämtlicher Entwicklungen
in Weltpolitik und Weltwirtschaft werden sollten, belegen im historischen
Rückblick: Späte Goethezeit und (post)moderne Globalisierung weisen in
vielerlei Hinsicht Parallelen auf. So lassen sich einschlägige Definitionen der
Globalisierung auch auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts rückbeziehen:
»Jenseits politischer Stellungnahmen lässt sich Globalisierung als die raumzeit-
liche Ausdehnung sozialer Praktiken über staatliche Grenzen, die Entstehung
transnationaler Institutionen und Diffusion kultureller Muster beschreiben − ein
Prozess, der sich durch seinen Tiefgang, seine Geschwindigkeit und seine Reich-
weite von konventionellen Formen der Modernisierung unterscheidet.« (Klaus
Müller: Globalisierung, Bonn 2002, S. 8).
Denn Beschleunigung und Entgrenzung sah Goethe als Charakteristika
einer neuen Ära, die ihm als ›veloziferisches‹ Zeitalter erschien − verlockend
in ihren Verheißungen, wie etwa der globalen Grenzüberschreitung von Waren,
Menschen und Ideen - aber auch furchterregend durch exzessive Tendenzen,
manifest in der allgegenwärtigen Beschleunigung sämtlicher Lebensbereiche
und dem Gefühl, von allzu oberflächlicher Information überflutet zu werden.
Goetheanismus
Der Begriff steht für die naturphilosophische Ausdeutung und lebens-
praktische Anverwandlung Goethescher, auch lediglich auf Goethe sich
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