Page 68 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 68

berufender Vorstellungen durch Rudolf Steiner (1861-1925) und die von ihm
               begründete holistische Denkschule der Anthroposophie. Als Herausgeber der
               naturwissenschaftlichen Schriften im Rahmen der berühmten Großen Wei-
               marer oder Sophien-Ausgabe des Dichters (1887-1919) war der Begründer
               der Anthroposophie zugleich ein philologischer Kenner des Naturforschers
               Goethe. Steiner erweiterte Elemente der Goetheschen Naturanschauung wie
               ›Urphänomen‹, ›Urpflanze‹ und ›Typus‹ zu einer ganzheitlich ausgerichteten
               wissenschaftlichen Methodik, die ihm und seinen Anhängern als Grundlage
               einer umfassenden anthroposophischen Weltsicht diente (Erkenntnistheorie
               der Goetheschen Weltanschauung, 1886; Goethes Weltanschauung, 1887).
               Zur kritischen Kennzeichnung der anthropo sophischen Goethe-Bezüge
               durch Steiner und die Steiner-Rezeption wird gelegentlich auch der Begriff
               →Goeth(e)ismus verwendet (vgl. z. B. Heiner Barz: Anthroposophie im Spiegel
               von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung. Zwischen lebendigem
               Goethismus und latenter Militanz, Weinheim 1994).



                                          Goeth(e)ismus


                  In der Schreibung »Goethismus« geht der Begriff auf den Berliner Schrift-
               steller, Dramatiker und Publizisten Karl Ferdinand Gutzkow (1811-1878)
               zurück und bezog sich auf den romantischen Goethe-Kult der ersten Hälfte
               des 19. Jahrhunderts (Karl Gutzkow: Götter, Helden, Don-Quixote. Abstim-
               mungen zur Beurtheilung der literarischen Epoche, Hamburg 1838, S. 252).
               In der von Gutzkow noch nicht praktizierten Schreibweise »Goetheismus«
               erscheint das Wort allerdings viel sprechender, weil es in gewisser Weise ein
               Wortspiel mit Theismus (oder Theologie) suggeriert. Diese Assoziation der
               Wortbildung stimmt sehr schön mit dem gemeinten Phänomen zusammen,
               nämlich der Tatsache, dass Goethe durch die weiblich dominierten Berliner
               Salons jener Zeit geradezu kultische Verehrung widerfuhr. Fachsprach-
               lich wird der Begriff auch gerne verwendet, um die anthroposophische
               Goethebegeisterung zu charakterisieren (→Goetheanismus). Im Kontext
               der Kanonthematik be zeichnet Goeth(e)ismus ein spezielles Phänomen der
               Goethe-Zitation. Demnach werden im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch
               bestimmte zitatähnliche Wortlaute oder Syntagmen bevorzugt – aber irrtüm-
               lich – dem Autor Goethe zugeschrieben. Dieses anhand von Zitatsammlungen
               im Internet und öffentlichen Redebeiträgen von Politikern oder Journalisten



               64
   63   64   65   66   67   68   69   70   71   72   73