Page 69 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 69
nachweisbare Phänomen lässt sich als Reflex einer Art des kollektiven bil-
dungsbürgerlichen Unbewussten beschreiben. Es funktioniert unwillkürlich
gemäß der weit verbreiteten und offenbar ungeachtet aller Bildungsmise-
ren nicht unterzukriegenden Vorstellung: ›Was für ein schöner poetischer
Wortlaut − der muss doch von Goethe stammen!‹ Auch das Fingieren von
›Goethe-Zitaten‹ oder goetheisierende Sprachfiktionen gelten dieser Defini-
tion zufolge als sprachliche ›Goethismen‹ (in Form eines Wortes oder einer
Wendung) bzw. als literarischer ›Goetheismus‹ (in Gestalt einer geistigen
Haltung oder eines entsprechenden Stilwillens). In der deutschen Sprache
und Kultur bleibt das Phänomen so gut wie ausschließlich mit dem Werk und
der Wirkung Johann Wolfgang von Goethes verbunden. Denkbare Analogien
wie einen ›Schillerismus‹ oder gar ›Hölderlinismus‹ sind aus literatur- und
sprachwissenschaftlicher Sicht nicht nachweisbar. Dies gilt unbeschadet der
Tatsache, dass der Volksmund zuweilen dazu neigt, bestimmte allgemein-
gültige Aussagen, pointierte Spruchweisheiten oder Sentenzen auch anderen
berühmten Persönlichkeiten in den Mund zu legen (z. B. Albert Einstein).
Dies geschieht aber lediglich punktuell, mit Blick auf eine einzelne Pointe und
keineswegs notorisch, wie das bei Goethe erwiesenermaßen der Fall ist (vgl.
Robert Charlier: »Goethismus. Zur Phänomenologie literarischer Zitation.«
In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 39.2 (2007), S. 99-116; ders.:
»Jedermann ein Eckermann? Goethe-Rezeption im digitalen Zeitalter.« In:
Jahrbuch für Internationale Germanistik 37.1 (2005), S. 161-168).
Goethe-Kult
→»Schillermüdigkeit«
Goethezeit
Das Wort wurde in seiner heutigen Bedeutung von Hermann August Korff
(1882-1963) in seinem 5-bändigen Monumentalwerk Geist der Goethe-
zeit geprägt, das zwischen 1927 und 1957 erschien. Durch Korff wurde ›die
Goethezeit‹ über die Fachwissenschaft hinaus zum festen Identifikations-
begriff der deutschen Nachkriegszeit (vgl. Fritz Martini. Die Goethezeit,
1949; s. Bibliografie, unter Punkt B.I). Inzwischen ist der Begriff zu einem
65