Page 70 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Synonym für die klassische deutsche Literatur zwischen 1770 und 1830 ins-
               gesamt ge worden. Oftmals wird der Begriff Goethezeit auch eher unscharf
               verwendet, etwa um eine höhere literarische Einheit zu bilden, die ›kleinere‹
               Epochen wie Sturm und Drang, Klassik oder Romantik umrahmt und pauschal
               einbegreift. Die Gleichsetzung mit der →Weimarer Klassik ist daher aus
               literaturwissen schaftlicher Sicht unzulässig. Trotz der vielen literaturwissen-
               schaftlichen Revisionen und kontroversen Datierungen hat die ›Goethezeit‹
               dazu bei getragen, den Kern des Epochenkonzepts durch den Glanz des großen
               Dichter namens zu bewahren. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass ein wie
               immer zu datierendes klassisches Zeitalter der neueren deutschen Literatur
               mit bestimmten Lebensabschnittsdaten des großen Weimarer Dichters zu
               um schreiben sei.


                  In der Germanistik gelten heute die Jahre 1770 und 1830 als belastbare
               Eckdaten für die Epoche der Goethezeit. Diese Festlegung orientiert sich an
               dem Zeitpunkt, da die ersten literatursprachlichen Werke des jungen Goethe
               ihre Wirkung zu entfalten begannen (um 1770) und endet mit dem Jahr der
               Julirevolution in Frankreich (1830). Erste überlieferte Schriftzeugnisse des
               ganz jungen Schülers Goethe datieren auf das Jahr 1757; der Todestag Goethes
               ist der 22. März 1832. Gerne wird die Goethezeit auch mit der vagen, aber
               im Kern zutreffenden Formel der Zeit oder Epoche ›um 1800‹ umschrieben.
               Hierbei wird stillschweigend unterstellt, dass der kalendarische Jahrhundert-
               wechsel mit dem Höhepunkt einer literarischen Blütezeit in Goethes Weimar
               zusammenfiel. Der Topos der ›Zeit um 1800‹ dokumentiert, wie unauflösbar
               historische Datierung und topische Stilisierung miteinander verschmelzen,
               wenn wir literatur geschichtliche Epochenkategorien errichten.

                  Die Koinzidenz zwischen Blütezeit, Schlüsselepoche bzw. Weimarer Klassik
               und Jahrhundertwende stellt allerdings ein in der Weltliteratur so gut wie ein-
               maliges Phänomen dar. Sie bleibt letztlich ein Konstrukt aus ka lendarischer
               Zeitmessung und den Versuchen der Literaturhistoriker des 19. Jahrhunderts,
               einen harmonischen Zyklus von Klassiken innerhalb der Ge schichte der deut-
               schen Literatur auszumachen. So entwickelte der berühmte österreichische
               Germanist Wilhelm Scherer (1841-1886) in seiner breit rezi pierten Geschichte
               der deutschen Literatur von 1883 eine zyklische Epochen theorie der deut-
               schen Literatur. Dabei verknüpfte er seine Epocheneinteilungen eng mit der
               Einteilung der deutschen Sprachgeschichte in vier Sprachepochen, und zwar



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