Page 71 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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wie folgt: 1. Althochdeutsche Zeit (750-1050); 2. Mittelhochdeutsche Zeit
               (1050-1350); 3. Frühneuhochdeutsche (1350-1650) und 4. Neuhochdeutsche
               Zeit (1650 bis zur Gegenwart). Auf den jeweiligen Höhepunkten der Epochen
               (2) und (4) siedelte Scherer zwei literarische Kulminationsphasen an, und
               zwar eine mittelhochdeutsche ›Klassik‹ um 1200 und die Weimarer Klassik
               um 1800. Insgesamt verstand er die Phasen II und IV als Blütezeiten (mit
               ihrer jeweiligen ›Klassik‹ als Scheitelpunkt), wogegen er die Phasen I und
               III als gegenzyklische Verfallsepochen deutete. Hinzu trat in Scherers Sicht
               noch ein weiterer »Wellenberg«, gebildet durch die germanische Heldenepik
               um das Jahr 600. Zusätzlich versah er seine Vor stellung von »Blüteepochen«
               mit dem Attribut weiblich (»frauenhaft«) und seine Verfallszeiten mit der
               Eigenschaft männlich (»männisch«). Es liegt auf der Hand, dass Scherer als
               Literaturhistoriker Begriffe und Konzepte des zeit genössischen Biologismus
               aufgriff und sich produktiv zu eigen machte. Fest zuhalten bleibt, dass der nach
               Goethe benannte Epochenbegriff - das Eponym ›Goethezeit‹ - ein bis heute
               gültiges Paradigma bildet, so beispielsweise innerhalb der Kunstgeschichte
               (vgl. z. B. Erik Forssmann: Goethezeit. Über die Entstehung des bürgerlichen
               Kunstverständnisses. München; Berlin 1999).




                                             Googol

                  Googol ist die mathematische Bezeichnung für die Zahl 10 hoch 100
               (10 ) . Dabei handelt es sich um eine 1 mit 100 Nullen − eine unvorstellbar
                  100
               große Zahl. Das terminologische Kunstwort geht auf den amerikanischen
               Mathematiker Edward Kasner (1878-1955) zurück. In seinem gemeinsam mit
               James R. Newman verfassten Klassiker Mathematics and the Imagination
               (New York 1940) erläuterte Kasner seine abstrakten und formalen Untersu-
               chungen zum menschlichen Zahlenverständnis auf allgemeinverständliche
               und zuweilen auch höchst amüsante Weise. Kasner zufolge geht der Name
               der neuen Zahl auf seinen Neffen Milton Sirotta zurück. Den zu jener Zeit
               neunjährigen Jungen habe er bei seinen Überlegungen aufgefordert, ihm eine
               Bezeichnung für eine neu einzuführende Riesen zahl zu nennen. Der Phantasie
               des Kindes entsprang daraufhin eben jenes gutturale Kunstwort ›Googol‹.
               Kasner und Newman diente dieser Phantasiebegriff als Mittel zur didakti-
               schen Ver anschaulichung des Unendlichen, also des im mathematischen Sinne
               Infiniten. Dabei beabsichtigten die beiden Mathematiker, den Unterschied




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