Page 72 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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dieses ungeheuren Mengenbegriffs zu rein intuitiven Alltagsvorstellungen
               anschaulich zu machen:

                  »The number of raindrops falling on New York is also ›many‹. It is a large finite
                  number, but nowhere near infinity. Now here is a name of a very large number:
                  ›Googol.‹ […]  The definition of a googol is: 1 followed by a hundred zeros. It
                  was decided, after careful mathematical researches in the kindergarten, that the
                  number of raindrops falling on New York in 24 hours, or even in a year or in a
                  century, is much less than a googol. Indeed, the googol is a number just larger
                  than the largest numbers that are used in physics or astronomy. All those numbers
                  require less than a hundred zeros. […] As a matter of fact, it has been estimated
                  that if the entire universe […] were filled with electrons and protons, so that no
                                                                                110
                  vacant space re mained, the total number of protons and electrons would be 10 «
                  (i.e. 1 with 110 zeros after it).« (Kasner/Newman 2001 [1940], p. 19-21)


                  Das hier geschilderte Missverhältnis zwischen den realen Größenordnungen
               der physikalischen Welt und den Mengenvorstellungen des Menschen spie-
               gelt sich auch in der Namenswahl für die Suchmaschine Google. So besagt
               eine Selbstdarstellung des (bis 2009) erfolgreichsten Internetkonzerns der
               Welt, dass die beiden Informatiker Sergei Michailowitsch Brin und Larry
               Page (beide Jahrgang 1973) bei der Einführung ihrer Wortmarke bewusst
               auf die Zahl Googol angespielt hätten. Vor dem Hintergrund der von Kasner
               und Newman veranschaulichten Dimensionen entpuppt sich diese Namens-
               wahl jedoch als schiere Vermessenheit, ja Hybris. Mit Blick auf die wahren
               Dimensionen der Zahl Googol ist das Google-Projekt nichts anderes als
               mathematische Mythologie, erhoben zum werbewirksamen Programm eines
               börsennotierten Internetriesen. Selbst wenn man heute (mit Stand des Jahres
               2010) mit mehreren Milliarden und eines Tages sogar mit Billionen von durch-
               suchbaren Internetseiten rechnen kann − an die Summe aller Elementarteilchen
               im gesamten Universum wird selbst die Anzahl aller Textzeichen im Inter-
               net wohl niemals auch nur im Entferntesten heranreichen (vgl. das Zitat im
               Vorigen). Diese zugespitzte Hypothese berührt zudem eine interessante Frage
               der quantitativen Logik: Vermag der Mensch virtuelle oder informationelle
               Strukturen zu schaffen, die mengenmäßig komplexer sind als die Natur selbst?
               Die Wortschöpfung ›Google‹ ist übrigens auch im litera rischen Sinne gar nicht
               so neu, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. So existierte bereits in
               Douglas Adams’ →Kultbuch der 1980 und 90er Jahre The Hitchhiker’s Guide
               to the Galaxy ein machtvoller Großcomputer namens »Googleplex Starden-



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