Page 80 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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von einer ›Kanonisierung‹ spricht. – Die  für den vorliegenden Zusam-
               menhang entscheidende neuzeitliche Rückübertragung von Bedeutung
               (4a) ›Auswahl von heiligen Schriften‹ auf den ästhetischen und lite-
               rarischen Bereich wird dem deutsch-niederländischen Gelehrten David
               Ruhnken (1723-98) zugeschrieben. In seiner ›Kritischen Geschichte
               der griechischen Redner‹ (Historia critica oratorum Graecorum, 1768)
               hatte der an der renommierten Universität Leiden wirkende Humanist erst-
               mals die Zugehörigkeit zu einer Gruppe herausragender Dichter oder Redner
               mit dem neulateinischen Wort ›canon‹ bezeichnet (vgl. Davidis Ruhnkenii:
               Opuscula varii argumenti, Oratoria, Historica, Critica. Editio altera, cum
                                                               2
               aliis partibus, tum epistolis auctior. 2 Bde., Leiden  1823; Bd. 1, S. 386).
               Diese Wortverwendung begründete die für den vorliegenden Zusammenhang
               maßgeb liche Bedeutung: auswahl odEr lIstE von mustErgültIgEn lItErarI-
               schEn wErKEn.

                  (B) Sachgeschichte: Kanon der Literatur (literarischer Kanon; litera-
               rische Kanonbildung). Als erste Manifestation eines modernen Kanons der
               Weltliteratur innerhalb der europäischen Kultur gilt Pierre Daniel Huets
               Traité de l’origine des romans (1670), der als Vorrede zu einem Roman und
               als Geschichte des Romans aus zeitgenössischer Sicht angelegt war. Diese
               Ent stehung eines Literaturkanons als gEschlossEnE aufzählung odEr lIstE
               Im sInnE EInEs tExtKorPus vollzog sich vor dem Hintergrund der Ablösung
               dessen, was in voraufklärerischer Zeit eigentlich als ›Literatur‹ galt, also des
               Schrifttums der Theologie, Jurisprudenz und Medizin, durch die sogenannten
               Belles-lettres (engl. polite literature). Die Belles-lettres umfassten zunächst
               die schöngeistige und unterhaltsame Literatur der klassisch-römischen und
               späten Antike, also Autoren wie Vergil und Ovid, aber auch Heliodor, Longus
               oder Satiriker wie Petron. Diese Schriftsteller wurden nun in Übersetzungen
               und Neuausgaben zugänglich und lebten in neuen zeitgenössischen Litera-
               turformen wieder auf, so z. B. in (fiktiven) Journalen, Reiseberichten und
               (Brief-)Romanen. Einen wichtigen Impuls setzte dabei Miguel de Cervantes
               mit seinem berühmten Don Quijote (1605/1615). Neben dem Roman bildete
               die Poesie die wichtigste Gattung bei der Entstehung des modernen euro-
               päischen Litera turkanons (vgl. dazu den überaus kundigen Artikel ›Kanon
               der Literatur‹, in: Wikipedia. Die freie Enzyklopädie; s. in der Bibliografie,
               unter Punkt D).





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