Page 84 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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von Ge neration zu Generation, ohne dass die Auswahlentscheidung indivi-
               duell nachvollzogen werden müsste; sowie (5.) Stabilisierung, als langfristige
               ›Bewahrung von Bewährtem‹ im kulturellen Gedächtnis.



                                     Kanonbildung, digitale


                  Als Arbeitsbegriff bezeichnet das Wort sämtliche Phänomene der
               Ka nonbildung, die mit der Anwendung der neuen digitalen Textmedien
               verbunden sind. Während der Begriff der­→automatischen Kanonisierung
               auf die statistischen Verfahren zur rein formalen Analyse von Sprachkorpora
               ab zielt, umfasst die digitale Kanonbildung auch die Einordnung von Texten
               nach inhaltlichen und ästhetischen Kriterien durch Datenbanken und Such-
               maschinen. Der Terminus ›neue elektronische Medien‹ ist hier im Unterschied
               zu den ›alten‹ audiovisuellen Medien Radio, Film und Fernsehen gebraucht
               und meint die mit dem Einsatz des Personal Computer und des Internets
               einher gehenden neuen Möglichkeiten der Auswahl und Bewertung von
               Inhalten. Wichtigste Werkzeuge der digitalen Kanonbildung sind semantisch-
               algorithmische Selektionsverfahren, wie sie von prominenten Suchmaschinen
                                                      TM
               wie Google angewandt werden (PageRank ; →Page-Rank-Algorithmus).
               Hinter diesen Agenten der digitalen Kanonbildung stehen Weltkonzerne der
               Wissensgesellschaft mit ihren mächtigen Marken als ›Agenturen‹ des kultu-
               rellen Gedächtnisses.




                                         Kanondebatten

                  Gemäß gängiger Deutungen sind Kanons einerseits auf Festschreibungen
               zurück zuführen, die ›von oben nach unten‹ erfolgen – etwa zum Zwecke des
               Erhalts oder der Reform von Machtstrukturen. Anderen Interpretationen zu folge
               sind sie das Produkt von Umbrüchen, die sich in der Kultur gleichsam ›von
               unten nach oben‹ vollziehen. Zumeist interagieren Personen oder Institutionen
               dabei in einem adversativen Sinne, d. h. bestimmte Absichten, Urteile oder
               Wertvorstellungen reiben sich aneinander. Die Auffassung von Kanonset-
               zungen wird sodann kontrovers, wenn die Autorität der dahin terstehenden
               Protagonisten in Frage gestellt wird oder sich als historisch über holt erweist.
               In der jüngeren Kanontheorie gibt es sogar Stimmen, die die Kanon bildung



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