Page 81 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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(C) Das Prinzip einer kanonischen Aus wahl von Artefakten, Bildern oder
Texten wird gerne mit dem definiten Artikel im Singular verbunden. Man denke
in diesem Kontext z. B. an Marcel Reich-Ranickis 5-teilige und 50-bändige
Auswahl Der Kanon. Der dudenkonforme Plural der usuellen Verwendung
des Wortes im ästheti schen, literarischen und musikalischen Sinne ist Kanons.
Nach Duden lautet der Plural lediglich im fachsprachlichen Gebrauch − im
Sinne von kirchen rechtliche Norm − Kanones, wohl unter Rückgriff auf die
Entlehnung des Wortes über das Lateinische als Zwischenstufe (canōn, Plural
canones). In der literaturwissenschaftlich dominierten Kanonforschung wird
allerdings überwiegend klassisch stilisierend von Kanones gesprochen und
geschrieben, auch wenn ästhetische oder literarische Kanons gemeint sind
(vgl. z. B. die Beiträge von Winko oder Gendolla, beide in: Arnold 2002
sowie von R. Schmidt, in: Saul/Schmidt 2007; u. v. a. m.).
An dieser Divergenz von gelehrter und gemeinsprachlicher Rechtschreib-
praxis lässt sich das Phänomen der sprachlichen ›Kanonisierung‹ (als ortho-
grafische Normierung) veranschaulichen. Norm und Usus weichen deutlich
voneinander ab. Der von der Dudenregel häufiger abweichende Gebrauch
ausgerechnet unter Germanisten und Literaturwissenschaftlern, die sich
eigentlich als Hüter deutscher Sprachnormen verstehen, lässt sich möglicher-
weise wie folgt erklären. Die Ge lehrten wollen auch ›gelehrt‹ schreiben und
bevorzugen den ›humanistisch gebildet‹ klingenden Plural Kanones. Innerhalb
ihres Diskurses setzen sie durch diesen Gebrauch einen Maßstab (sie ›bilden
einen Kanon‹) und üben damit Druck auf ihre Wissenschaftlerkollegen aus
− frei gemäß der implizierten rhetorischen Devise: ›Es heißt doch (gelehrt)
Kanones und nicht (ungebildet) Kanons‹. Auf der Ebene des fachlichen Dis-
kurses wird so ein nicht dudenkonformer Plural - also strenggenommen ein
Rechtschreibfehler - unwillkürlich kanonisiert. Anhand eines vermeintlich
peripheren Details der wissenschaftlichen Sprachpraxis erhält man so einen
ganz unmittelbaren Einblick in die Eigengesetzlichkeit von Prozessen der
›Kanonbildung‹.
Kanon, die
»[E]in zwischen Missal und Doppelmittel liegender, in grobe und kleine
Kanon unterschiedener Schriftgrad von 48 [bzw.] 36 Punkten, mit welchem
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