Page 82 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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zuerst die Meßkanons gedruckt sind.« (Heinrich Klenz, Die deutsche Drucker-
               sprache, Straßburg 1900). Die feminine Form des Wortes ›Kanon‹ ist also ein
               heute veraltetes Maß für die Schriftgröße in der historischen Typografie. Die
               Kanon geht zurück auf den traditionellen Schriftsatz im katholischen Messbuch
               (Kanon, für: Hochgebet; →Kanon, der; Bedeutung  4b). Zur Umrechnung im
               Desktop-Publishing samt Beispielbuchstaben s. die deutsche Online-Ausgabe
               von Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Stichwort Kanon (Schriftmaß).




                                         »Kanonbildner«

                  Geprägt wurde der Begriff von dem im Jahr 2000 verstorbenen Grazer
               Romanisten Ulrich Schulz-Buschhaus (»Kanonbildung in Europa«, in: Simm
               1988, S. 45-68; s. Bibliografie, unter Punkt A.II.1 bzw. D) und bezeichnet
               den Typus des gebildeten Dichters (poeta eruditus). Im Unterschied zum
               →Klassikermacher ist damit derjenige literarisch produktive Autor gemeint,
               der zugleich auch theoretische Schriften verfasst und somit nicht nur als
               Poet, sondern auch auf poetologischer Ebene aktiv am eigenen Kanonerfolg
               teil hat. Der Typ des Kanonbildners tritt nach Schulz-Buschhaus erst mit der
               Renaissance und Romantik in die europäische Literaturgeschichte. Vorläufer
               erkennt er in der alexandrinischen Philologie des Hellenismus. Im Kanon-
               bildner sieht Schulz-Buschhaus einen wichtigen Akteur des »autopoietischen
               Kanonwandel[s]«, wie er sich - unter Rückgriff auf eine These von Niklas
               Luhmann - in der frühen Neuzeit beschleunigt vollziehe. Als Musterbeispiel
               für einen solchen Selbstkanonisierer nennt er Dante Alighieri (1265-1321). In
               seiner Doppelrolle als genialer Poet und wegweisender Programmatiker habe
               Dante erstmals in der Literatur Europas als Prototyp eines solchen Kanon-
               bildners in eigener Sache fungiert. Als literarisches Hauptwerk bezieht sich
               Schulz-Buschhaus dabei auf Dantes Divina Commedia (vollendet um 1320).
               Als Dokument der poetologischen Wirkmacht des florentinischen Dichters
               nennt er Dantes Schrift »Über die Redegewandtheit in der Volkssprache« (De
               vulgari eloquentia, 1303/1305).












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