Page 83 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Kanonbildung


                  Betrachtet man den Vorgang der Kanonbildung als einen übergreifenden
               Prozess, der nicht nur in der Kultur-, sondern auch in der Naturgeschichte
               des Menschen eine Rolle spielt, so ergeben sich folgende Deutungs ansätze.
               Innerhalb der Geisteswissenschaften ist zwischen den Kulturwissenschaften
               auf der einen und der Literatur wissenschaft bzw. der Literaturgeschichte auf
               der anderen Seite zu unterscheiden. Kultur wissenschaftler erklären Kanon-
               bildungen gerne beschreibend und lieben offene Kanonkonzepte. In der Lite-
               raturwissenschaft bildet die Literaturgeschichte den traditionellen Gegenpol.
               Denn vor allem in der Vergangenheit machte sie sich für autoritative Kanon-
               bildungen stark. So kann man den deutschen Goethe- und Schillermythos samt
               entsprechender Epochenetiketten als typische Prägungen der akademischen
               Literaturgeschichte bezeichnen. Allerdings ging auch die Kritik normativer
               Klassik- und Kanonkonzepte in den 1970er und 80er Jahren von Literatur-
               historikern aus, und zwar speziell aus der amerikanischen Germanistik. Man
               denke nur an die Entlarvung der so genannten Klassik-Legende.


                  In der Ideengeschichte genießt das Kanonkonzept bislang keine nennens-
               werte Beachtung. Germanistik, Kunstgeschichte und Musik wissenschaft
               blieben bislang auf personen- oder epochenbezogene An sätze zur Erforschung
               einer Idee des Klassischen beschränkt. Einer übergeord neten Theoriebildung
               hat man sich in diesem Bereich noch nicht gestellt. Weiter geht dagegen der
               Erziehungswissenschaftler Alfred K. Treml (1997/1999; 2009; s. Bibliografie,
               unter Punkt B.V). Aus Sicht des Sozialwissenschaftlers fokussiert Treml auf
               die Konstruktion von ›Klassikern‹ als Vordenker oder Repräsentanten großer
               Ideen. Dabei richtet er seinen Blick beispielhaft auf Gestalten wie Gottfried
               Wilhelm Leibniz, Johann Amos Comenius, Johann Wolfgang Goethe oder
               Rudolf Steiner und reflektiert deren Klassikerkarrieren. Ausgehend von der
               System theorie adaptiert Treml zugleich Erklärungsmuster und Begriffe der
               allgemeinen Evolutionstheorie. So spricht er z. B. von Selektion, Variation
               und Stabilisierung einer bestimmten Idee, auf deren Durchsetzungserfolg der
               Status eines Klassikers beruhe. Bei der Klassikerwerdung sind nach Treml
               folgende Faktoren wirksam: (1.) Konstruktion, d. h. die Zuschreibung von Wert
               und Bedeutung; (2.) Selektion nach Menge und Anzahl, also Reduktion auf
               ein vermeintlich Wesentliches; (3.) Variation, indem bestehende Festlegungen
               optimiert werden; (4.) Reproduktion, als Weitergabe historischer Erfahrung



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