Page 85 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 85
allein ex negativo erklären. Kanons sind demzufolge immer nur Reaktionen
oder Reflex auf Erschütterungen bestehender Traditionen. Kanons entstünden
demnach vor allem in Zeiten der Anfechtung einer bestehenden Herrschafts-
ordnung oder eines drohenden kulturellen Vergessens. Im Unterschied zum
singulari schen Charakter des kanonischen Konzepts in Antike und Aufklärung
(›der Kanon‹) wird dem Potential von Kanonkontroversen im Zeitalter der
Globali sierung am ehesten eine pluralische Begriffsansetzung gerecht. Ein
Kanon verstünde sich demnach stets als eine Kanonvariante oder Kanonver-
sion unter mehreren möglichen.
Kanondidaktik
Im Deutsch- und Fremsprachenunterricht, in der Literaturkritik und Publi-
zistik verbreiteter Grundsatz, wonach ein bestimmtes Maß an normativen
Kanonsetzungen für das erfolgreiche Erlernen von Sprachen sinnvoll sowie
für die Vermittlung und Verbreitung von Literatur auch unverzichtbar sei.
Kanonformation
Der Begriff der Kanonformation betont im Unterschied zur eher prozessual-
dynamischen Bedeutung von Kanonbildung das Element des Affirmativen,
Fest-Formierten oder – rechtsphilosophisch gesprochen – den Aspekt der
sogenannten Positivität. Zugleich schwingt leicht pejorativ der Aspekt des
Schematischen, rein Formalen mit. Der Begriff legt auch die Frage nach
der Form und Struktur von Kanonbildungen nahe: Welche nummerischen
Auswahlschemata werden von Kanonisierungsinstanzen bevorzugt? Welche
Muster, Mythen oder Meta phern liegen kanonischen Auswahlprozessen
zugrunde? (→Kanonmetrik; →Kanontopik).
Kanongegenstand
Was kann über den engeren Begriff des Autorenkanons hinaus Objekt
oder Gegenstand einer Kanonisierung sein? Im literarischen Sinne können
grundsätzlich folgende Bezugsgrößen kanonisiert werden: (A) eine PErson
81