Page 87 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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die Digitali sierung der erfolgreichen »Gelben Reihe« auf CD-ROM lebt
               diese verlegerische Kanonbildung bis auf den heutigen Tag fort. Mit dem
               Erscheinen des ersten Bändchens, einer Ausgabe von Goethes Faust. Der
               Tragödie erster Teil (RUB Nr. 1) am 10. November 1867 nahm eine singuläre
               Erfolgs geschichte ihren Lauf. Sie basierte auf dem engen Zusammenspiel von
               bewährten Kanonistanzen wie Wissenschaft und Philologie, renommiertem
               Verlags- und Bildungs wesen mit Schule, Gymnasium und Universität. In
               nahezu idealtypischer Wiese wirkten dabei die wichtigsten Kanoninstanzen
               zusammen, um den Texten der Klassiker im deutschsprachigen Raum zu der
               ihnen gebührenden Verfügbarkeit und Wertschätzung zu verhelfen.



                                          Kanonisierung


                  Der literaturwissenschaftliche Begriff kann zweierlei bedeuten: (1.) Kanon-
               bildung, d. h. die intentionale Etablierung oder Fixierung eines bestimmten
               Kanons von Autoren/Urhebern, Œuvres, Texten/Werken, Epochen, Stilen
               oder Gattungen, und zwar (a) als absichtliche Herstellung eines Kanons
               durch Urheber, d. h. Subjekte mit ihren geschmacklichen Vorlieben, Inter-
               essen, Urteilen und Vorurteilen sowie (b) als Herausbildung im Sinne eines
               nicht gesteuerten oder nicht steuerbaren, letztlich auch nicht vorhersehbaren
               Prozesses. Methodisch stellt sich hierbei die Frage der jeweiligen Determi-
               niertheit der angenommenen Akte oder Prozesse. Kanonisierung sub (1a) wäre
               subjektiv determiniert; Kanoni sierungen sub (1b) wären entweder als objektiv
               determiniert (also über individuell oder systemisch bedingt) zu definieren; oder

               aber − ein zusätzlicher Fall (1c) − als nicht-determiniert, also als kontingent
               oder zufällig aufzufassen. Die An-tonyme zu Bedeutung (1a) sind Kanon-
               verzicht, zu Bedeutung (1b) und (1c) Kanonverlust. (2.) Kanonisierung kann
               auch auf ein bestimmtes Einzel werk bezogen als Akt der Aufnahme in oder
               Zuschreibung zu einem bestimmten Kanon verstanden werden. Beispiel: Ist
               ein bestimmtes biblisches Buch echt oder ›apokryph‹? Kann ein bestimmtes
               Werk tatsächlich Shakespeare zugeschrieben werden? Gehört ein Text zum
               →Autorenkanon des Dichters oder nicht? Zählt Friedrich Hölderlin im Sinne
               eines Epochenkanons eher zu den Dichtern der Frühromantik oder ist er der
               Romancier des deutschen Idealismus? Das Gegenteil von Bedeutung (2) ist
               Dekanonisierung.





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