Page 89 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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man die Beobachtungen der Ver suche, so lässt sich aus der Tatsache, dass
               die Aktivität einer gewissen Hirnregion aktiviert ist, analog rückschließen,
               dass der Proband gerade einen Promi nenten erkennt.


                  Der Begriff der Kanonisierung oszilliert damit zwischen zwei Polen der
               Interpretation: (A) Einerseits kann man Kanonisierung als polykausalen,
               evo lutionären Prozess auffassen, in dem keine Subjektivität oder herme-
               neutische Einzelintention mehr erkennbar ist. (B) Auf der anderen Seite ist
               Kanoni sierung interpretierbar als das Produkt absichtlicher Zuschreibungen
               und se lektiver Entscheidungen von Subjekten (→Kanoninstanzen;­→Klassi-

               kermacher).



                                  Kanonisierung, automatische


                  Darunter sind informationstechnische Prozeduren zu verstehen, die Texte
               durch sogenanntes Parsing oder morphologische Indexierung in ihre Bestand-
               teile wie Buchstaben und Zeichen zerlegen und sie als bloße Zeichenketten
               einer rein formalen Analyse unterziehen. Mit dem Kompressionstheorem des
               Informations theoretikers Claude Elwood Shannon (1919-2001) ist es möglich,
               Texte allein aufgrund der Verteilungshäufigkeit der in ihnen vorkommenden

               Buchstaben und Buchstaben folgen (Wörtern) mit einer bestimmten Wahr-
               scheinlichkeit einem Urheber oder einer Quelle zuzuordnen. Das kann bei der
               sprachlichen Stilanalyse oder der philologischen Zu schreibung von Texten
               höchst hilfreich sein. Ihre praktische Anwendung finden diese mathematischen

               Theoreme bei der Kompression von Texten und Textdaten. Gemeint ist damit
               die Verdichtung von Daten ohne oder bei möglichst geringem Informationsver-
               lust. Wichtiger als der analytische Wert dieser automatischen Kanonisierung
               erscheinen jedoch die neuen damit verbundenen produktiven Möglichkeiten.
               So kann man das Verfahren auch umkehren und künstliche Texte generieren.
               Ein solcher Computertext folgt dann beispielsweise exakt der Buchstaben-
               verteilung einer Vorlage aus dem Kanon. So entstehen Texte im statistischen
               Stil der Lutherbibel oder in der digitalisierten Diktion Shakespeares. Lesen
               oder verstehen kann man diese Kunsttexte allerdings nicht. Denn die Buch-
               stabenfolgen spiegeln allein die Zeichenverteilung ihrer Vorlagen texte. Ein
               künstliches Kauderwelsch von Pseudo-Wörtern gruppiert sich so zu kryptischen
               Scheinsätzen. Aber nicht alle dieser ›Wörter‹ oder ›Sätze‹ sind völlig sinnfrei.



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