Page 90 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Immer wieder kommt es zu einzelnen Buchstaben- oder sogar Wortfolgen,
               die den vedutzten Leser durch ihre scheinbare Zufallsbedeutung überraschen
               (vgl. Hagenauer 2007; s. Bibliografie,  unter Punkt A.II.9).



                                    Kanonisierung, negative


                  Die Geschichte des Kanonausschlusses von Autoren, Texten oder Inhalten
               aus re ligiösen, politischen oder ästhetischen Gründen ist so alt wie die der
               Kanon bildung selbst. Auf dem Höhepunkt der Wissensrevolution, die einst
               mit der Erfindung des Buchdruckes begann, gab es zwei konträre Entwick-
               lungen. Zum einen verhalfen die französischen Aufklärer und Enzyklopä-
               disten der Idee einer freien und positiven Kodifizierung des Weltwissens
               zum Durchbruch. Mit dem berühmtesten Wörterbuch aus dem Geiste der
               Vernunft, der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert war um 1750 der
               Gattungssingular geboren. Fortan sprach man von der Enzyklopädie – und
               von dem Enzyklopädischen an sich. Dies do kumentiert die reiche Zahl von
               Folgeprojekten, die noch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in Aufbau,
               Umfang und Sprache den Geist der französischen Mutter aller modernen
               Enzyklopädien atmeten. Titel von Nachfolgern wie L’encyclopédie de Paris
               oder l’encyclopédie d’Yverdon signalisierten mit ihrer singularischen Titel-
               gebung, wie stark sie ihrem erfolgreichen Vorbild verpflichtet blieben. Noch
               die 242-bändige Oekonomisch-technologische Encyklopaedie von Johann
               Georg Krünitz (1728-1796) verstand sich zunächst als Über- und sodann als
               Fortsetzung der ersten großen französischen Universalenzyklopädie.


                  Auf der anderen Seite eröffnete sich seit der frühen Neuzeit eine völlig
               neue Dimension des Kanonauschlusses. Die geschichtlich wohl bedeutendste
               Macht ›negativer Kanonisierung‹ verkörpert der vatikanische Index librorum
               prohibitorum (→Index der verbotenen Bücher). In kaum einer anderen litera-
               rischen Epoche gelangten so viele bedeutende Werke der Weltliteratur auf den
               päpstlichen Index wie im Zeitalter der Aufklärung. Darunter zählten neben den
               epochalen Werken eines Machiavelli oder Montaigne auch die Schriften von
               Diderot, Montesquieu, Rousseau oder Voltaire. Auch die Encyclopédie wurde
               bereits kurz nach ihrem ersten Erscheinen (1751) im Jahre 1759 indiziert.
               Allerdings erreichte die katholische Kirche damit oftmals genau das Gegen-
               teil von dem, was sie ursprünglich beabsichtigt hatte. Zwar war es für einen



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