Page 92 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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mit The Devil’s Dictionary (1911) verpflichtet, ein literarisch-polemisches
›Wörterbuch‹, das 1906 zunächst unter dem bezeichnenden Titel The Cynic’s
Word Book erschienen war.
Kanonlosigkeit
Nach Helmut Fuhrmann (1996/97; s. Bibliografie, unter Punkt A.I.2) ein
Zustand des Verlusts an verbindlichen Wertmaßstäben innerhalb des deutschen
Bildungswesens. Fuhrmann diagnostiziert den Zustand der Kanonlosigkeit als
Ende eines Prozesses, der in Deutschland mit dem kulturkritischen Umbruch
von 1968 begann, um in den 1970er und 80er Jahren mit dem so gut wie
voll ständigen Verlust eines literarischen →Kernkanons als Bezugspunkt für
die Bildungspolitik zu enden. Fuhrmann zufolge hatte dies schwerwiegende
Aus wirkungen auf den Unterricht an Schulen und Universitäten (→Entkano-
nisierung). In der kulturellen Überlieferungspraxis hat der Begriff grundsätz-
liche Bedeutung. Ist ›kanonlose‹ Originalität innerhalb einer Überlieferungs-
und literarischen Rezeptionskultur überhaupt möglich? Oder gilt vielmehr
das Prinzip der Unvordenklichkeit der Intertextualität aller literarischen
Hervorbringungen des Menschen? Mit einigem Recht kann man nämlich
auch annehmen, dass ein Text immer schon einen Verweis auf einen zeitlich
vorgängigen oder kanonisch vorrangigen Text − eine ›Quelle‹, ein ›Muster‹,
ein ›Original‹ − darstelle. Intertextualität wäre demnach ein unvordenkliches
Merkmal aller Texte. Ein einziger unvorgänglicher literarischer Urtext wäre
demzufolge überhaupt nicht vorstellbar. Jede Über lieferung innerhalb des
kulturellen Gedächtnisses erwiese sich dieser Annahme zufolge als eine Nach-
erzählung – als Wiedergabe, Version oder Variation einer kanonischen Quelle.
Die Summe aller Texte der Weltliteratur (hier gedacht als alle literarischen
Texte der Welt umfassendes Textkorpus) wäre demnach eine unendliche,
aber in ihrer Länge zeitlich begrenzte Kette von kanonischen Erzählungen
innerhalb der Kulturgeschichte der Menschheit.
Kanonmetrik
Der Begriff bezeichnet die zahlenmäßigen Regel- oder Gesetzmäßigkeiten,
die in einem Kanonschema auftreten. Überwiegend handelt es sich dabei um
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