Page 91 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 91

adeligen Intellekuellen wie Charles de Montesquieu zeitlebens undenkbar,
               sich zur Verfasserschaft eines indizierten Meister werks der Literatur, wie
               es seine satirischen Lettres persanes (1721) darstellten, jemals offiziell zu
               bekennen. In freidenkerischen Kreisen vermochte das kirchliche Verdikt aber
               auch umgekehrt das Renomee eines inkriminierten Autors oder Werkes zu
               beflügeln. Solche Anfechtung von oben und Umstrit tenheit in Glaubensfragen
               begründete so oft erst das neue aufklärerische Selbstverständnis und sorgte
               für Reputation. Viele Aufklärer und Frei geister praktizierten auch selbst
               eine rege Kanonisierung aus dem Geiste der polemischen Verneinung. Das
               manifestierte sich etwa in pseudo -lexikografischen Versuchen wie dem gegen

               Voltaire gerichteten Dictionnaire antiphilosophique als Gegenentwurf zu dessen
               epochemachendem Dictionnaire philosophique ou La Raison par alphabet
               von 1764. So wurde der Typus des satirischen Anti-Wörterbuchs zum Mittel
               der kritischen Auseinandersetzung. Als dictionnaire critique oder dictionnaire
               des erreurs richteten sich solche Projekte bewusst gegen bestehende Werke
               der aufklärerischen Lexikografie. Ihre Verfasser invertierten die Lexikonform,
               indem sie eben jene abergläubischen Irrtümer oder frivolen Sottisen sammel-
               ten, die von den aufgeklärten Enzyklopädisten bekämpft wurden.


                  In Deutschland begründeten Satiriker wie Christian Ludwig Liscow
               (1701-1760) und Gottlieb Wilhelm Rabener (1714-1771) das Genre dieser
               alphabetischen Aphoristik. Mit seinen Charlatanerien in alphabetischer
               Ordnung   (1781) schuf der Berliner Aufklärer August Friedrich Cranz
               (1737-1801) einen höchst amüsanten und gänzlich eigenständigen Beitrag.
               Auch aus dem unmittelbaren Weimarer Umfeld Goethes ist ein sprechendes
               Beispiel über liefert. So kann Goethes Schwager Christian August Vulpius
               mit einigem Recht als Verfasser eines entsprechenden Glossars gelten, das
               1788 anonym erschien (vgl. Christian August Vulpius: Glossarium für das
               Achtzehnte Jahrhundert; neu hg. von Alexander Košenina, Hannover-Laatzen
               2003). Im Grunde machten sich diese kleinen Werke lustig über die Großen
               ihrer Zunft, wie etwa Johann Christoph Adelungs stocksteifes Grammatisch-
               kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Verglei-

               chung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen (1774-86)
               oder Johann Heinrich Zedlers monumentales Universal-Lexicon (1732-1754).
               Noch Gustave Flaubert griff mit seinem postum erschienenen Dictionnaire
               des idées reçues (›Wörterbuch der Allgemeinplätze und Phrasen‹,1911-13)
               auf dieses Muster zurück. Auch Ambrose Bierce erscheint diesem Muster



                                                                                 87
   86   87   88   89   90   91   92   93   94   95   96