Page 94 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 94
lich als eine bedeutende Metrik der abendländischen Bildungskultur heraus
(→Fächerkanon).
Kanonrevision
Das Stichwort kann als deutsche Ensprechung angloamerikanischer
Begriffs bildungen wie »opening the canon« und »canonical revision« gelten.
Einer Kompensationsthese zufolge sublimierte die linksliberale amerikanische
Kanon kritik mit ihrer Forderung nach Kanonrevision in den 1960er und 70er
Jahren lediglich ihr politisches Unvermögen. Denn gesellschaftskritische
Posi tionen schienen in der konservativ geprägten kulturpolitischen Realitität
des Kalten Krieges kaum umsetzbar (→»Canon Bashing«; →»Canon Wars«).
Kanonskepsis
Ablehnung, auch polemische Feindschaft gegenüber dem fest formierten
Kanon einer bestimmten →Kanoninstanz.
Kanontopik
Kanonbildungen bedürfen nummerischer Schemata oder topischer Muster,
um bestimmte Auswahl- oder Wertentscheidungen anschaulich zu machen.
Je ein gängiger der gewählte Topos, desto nachhaltiger wirkt die behauptete
Kanon setzung. Bei den Vorarbeiten zu seiner wohl berühmtesten Gedicht-
sammlung, dem West-östlichen Divan, stieß Goethe in der orientalistischen
Fach literatur seiner Zeit auf einen solchen Kanontopos. Dabei handelte es sich
um die Sieben zahl der vermeintlich wichtigsten mittelalterlichen Dichter aus
dem persisch-arabischen Kulturkreis, versinnbildlicht in der Metapher vom
→Siebengestirn. Die Herkunft dieser Vorstellung gilt bis heute als nicht ein-
deutig geklärt. Jedenfalls verdeutlicht der Topos von den sieben Sternen sehr
anschaulich, wie die nachhaltige Benennung von erfolgreichen Kanonkon-
stellationen funktioniert. Bereits das Wort von der ›Kanonkonstellation‹ enthält
ja ein Bild, das aus der Astronomie übertragen wurde. Eine systematische
Analyse der formalen Beschaffenheit und zahlenästhetischen Bedingtheit ver-
90