Page 93 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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nummerische ›Auswahlen‹, die eine absolute Anzahl oder Gruppe von Autoren
               oder Werken aus einer größeren Menge herausgreifen. Ein Musterbeispiel für
               eine Kanonmetrik bildet der spätantike Autorenkanon, der sich streng an den
               klassischen Literaturgattungen orientiert und der für die Literaturgeschichte
               Europas prägend blieb. Im Grunde stellt diese Kanonmetrik eine Tabelle von
               Zuordnungen dar. Die Zahl der Felder wird dabei von der Matrix des klassi-
               schen Gattungskanons vorgegeben:


                  »In der Spätantike stellen bes[onders] alexandrin[ische] und byzantinische
                  Gelehrte im Gefolge der Grammatiker Aristophanes von Byzanz und Aristar-
                  chos von Samos K[anon]es aller Literaturgattungen für die Schullektüre auf:
                  3 Tragiker (aIschylos, soPhoKlEs, EurIPIdEs), 9 Lyriker (alKman, stEsIchoros,
                  IByKos, sImonIdEs, BaKchylIdEs, PIndar, alKaIos, saPPho, anaKrEon), 10 attische
                  Redner (antIPhon, andoKIdEs, lysIas, IsoKratEs, aIschInEs, IsaIos, dEmosthEnEs,
                  hyPErEIdEs, lyKurgos, dEInarchos). In röm[ischer] Lit[eratur] geschah Ähnliches
                  für 10 Palliatendichter und Redner.« (Wilpert  1979, S. 394 − Palliatendichter:
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                  Komödiendichter im gräzisierenden Stil; Anm. R. C.)

                  Die historische Bedingtheit und faktische Exklusivität solcher Kanon-
               metriken findet sich bereits bei Gero von Wilpert hellsichtig analysiert:
               »Dem Auswahl verfahren ist die zahlreiche Überlieferung der betroffenen
               Autoren (bzw. deren ausgewählter Stücke), aber auch die Vernachlässigung
               der anderen (z. B. zahl reicher Tragiker) zuzuschreiben.« (Wilpert a. a. O.,
               ebd.) Rezeptions geschichtlich objektivieren Kanonmetriken also lediglich die
               Subjektivität einer bestimmten Literaturauffassung oder Gattungsmentalität
               (→Kanontopik). Neben scharfen und stabilen Kanonmetriken zeichnen sich
               weitere Zahlenschemata durch ihre Unschärfe und Wandelbarkeit aus. Dies
               offenbart sich vor allem im mythologischen Bereich. Eine starre Kanonmetrik
               mani festieren beispielsweise die zwölf Arbeiten des griechischen Helden
               Herakles (lat. Hercules). Verschiedene Sagenkreise tradieren unterschiedli che
               Versionen ein und derselben Mythe. Das führt gelegentlich zu abweichen-
               den Angaben über die genaue Anzahl von Gestalten innerhalb bekannter
               mythischer Konstellationen. Schon Benjamin Hederich, der Mytho graf der
               Goethezeit, überlieferte Figurengruppen in ganz unterschiedlichen Varianten.
               So bezifferte er die Himmelstöchter der Plejaden zeitweise mit sechs statt
               mit der später kanonisierten Siebenzahl. Weitere Mythen konstellationen sind
               zahlenmäßigen Schwankungen unterworfen, z. B. in der Argonautensage.
               Auch das Siebenerschema der Artes liberales kristallisierte sich erst allmäh-



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