Page 95 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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gleichbarer Kanontopiken steht aus literaturwissenschaftlicher Sicht noch aus.
               Eines der wichtigsten Schemata der literarischen Klassikerkanonisierung des
               19. Jahrhunderts stellen weitere mytho-nummerische Topoi dar. Zu nennen
               sind mit Blick auf die Goethezeit die Vorstellung vom ›Vier(er)gestirn‹ oder
               ›Quartett‹ der Weimarer Klassiker. Beiden Vorstellungen zufolge bilden
               die damit Bezeichneten eine gleichsam symmetrisch-organische Einheit. In
               der Regel gemeint waren damit Johann Gottfried Herder, Christoph Martin
               Wieland, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller. Zu dieser Form
               der symmetrischen Schematisierung stimmt auch das Kanonkonzept der
               »vier Systemhäupter des vollendeten Zyklus der deutschen Philosophie«.
               Friedrich Schlegel (1772-1829), der Theoretiker und Vordenker der Jenaer
               Früh romantik, würdigte damit die seiner Ansicht nach führenden Köpfe des
               deutschen Idealismus: Immanuel Kant, Friedrich Heinrich Jacobi, Johann
               Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Auch Topoi wie
               →Dioskurentopos und →Zwillingsmetapher verbinden eine zweigliedrige
               Metrik mit einem mythologisierenden Bild.

                  Zahlenbilder liefern die Matrix für Anzahl und Anordnung von Elementen
               innerhalb einer kanonischen Auswahl. Beispiele für nummerische Schemata,
               die bei der literarischen Kanonbildung häufig verwendet werden, bildet die
               Vorstellung von den ›Top ten‹ (top 10) einer Besten- oder Bestsellerliste. Die
               Zahlen 3, 5, 20, 50 oder 100 bezeichnen hingegen eher Listenplätze irgendwo
               zwischen den best few und der großen, aber gerade noch erwähnens werten
               Masse im Rahmen einer Hit chart oder Ranking list. In diesem Kontext
               interessant sind ungerade Dezimalgrößen wie 101, 501 oder 1001, die topisch
               so viel ausdrücken wie ›alles Wichtige, alles Wesentliche umfassend‹ oder
               lediglich für ›sehr viel‹ stehen. Die Überschreitung der Tausend um einen
               Zähler symbolisiert eine nicht enden wollende Reihe, eine unendliche Serie
               oder Folge. Der Zahlentopos der 1001 erinnert zu gleich ganz unmittelbar an
               große Literatur, Scheherazades berühmte Erzählungen aus Tausendundeiner
               Nacht. Weitere Kanontopoi sind die Drei zahl, so z. B. als Heilige Dreifaltigkeit
               oder ›Kleeblatt‹, die Fünfzahl der menschlichen Hand oder die theologische
               Siebenzahl, manifest etwa in der biblischen Schöpfungsvorstellung sowie in
               der mittelalterlichen Mystik und Zahlenkabbalistik. Man denke auch an die
               Namensbezeichnungen kanonischer Schriften wie Tenach, Septuaginta oder
               Pentateuch.





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