Page 135 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Flugmythe von Schöpfung und Erlösung 133
Der Traditionsstrang (1) führt in letzter Konsequenz zur Geschichtsphilosophie
(Lessing, Schiller) und klassischen Ästhetik (Moritz, Goethe), zur Rettung der
„Freiheit“ im „absoluten Ich“ Schellings und zur Dialektik Hegels. Die Linie (2)
rettet Messianität und Eschatologie ungeachtet aller Säkularisierungen in Gestalt
einer „politischen“ Theologie und mythopoetischen „Verfahrungsweise“
(Hölderlin).
Die Geistigkeit Gottes drückt sich also im Flugtopos aus. Hier ist das Urbild
zu vermuten, das Hölderlins Flugbilder vorgeprägt und mit der semitisch vorge
prägten Geistvorstellung des Christentums re-inspiriert hat. Die messianische
Aufladung des Ikarusmythos oder umgekehrt: die ikarische Anreicherung der alt-
testamentlichen Ruachvorstellung verbindet messianische Logosspekulation und
mythisches Bilderdenken. Das Bild des Adlers für die Ruach ist die Wurzel der
Flugmythe, die in der zeitgenössische Hymnik um 1800 so beliebt und bei Höl
derlin so spezifisch angereichert und figürlich ausgeformt ist (z. B. in ‘Rousseau’,
‘Germanien’, ‘Der Adler’, ‘Der Einzige’, ‘Patmos’).
Vogel- und Flugmetaphorik versinnlichen die Schnittstelle von anschaulicher
Körperlichkeit und bildloser Geistigkeit Gottes. Einen Beleg dieser Vorliebe für
die Flug- und Vogelbilder bei Philo selbst gibt es nicht. Der römische Dichter
Marcus Annaeus Lucanus (39-65 n. Chr.), ein Neffe Senecas und stoisch geprägter
Epiker, war jedoch von der Prophetismuslehre Philos beeinflußt (vgl.
Lewy 1929: 57). Bekanntlich hat Hölderlin schon in seiner Tübinger Zeit aus
Lucans Pharsalia übersetzt (vgl. KHA II: 638-661). Hölderlins Lucan-Ausgaben
sind sogar nachgewiesen (vgl. KHA III: 693, ZZ. 17f.). Allerdings widmete sich
Hölderlin dem römischen Epos eher vor dem Hintergrund seiner Revolutions
begeisterung. Lucan, der zunächst seinem Kaiser Nero huldigte, sympathisierte
nämlich mit Cato und den republikanischen Gegnern des Kaisertums. Das Thema
Republikanismus und Freiheit („Libertas“) hat die Stiftler natürlich fasziniert (vgl.
KHA II: 1268L; zu Hölderlins Lucanübersetzung vgl. neuerdings Pusch 1996).
Jedenfalls erlaubt es die Häufigkeit der Flug- und Vogelvergleiche im Umfeld
der jüdischen Weisheitslehre, die alttestamentliche Mythik und Semantik von
„Adler“, „Taube“, „Logos“ und „Messias“ zu verknüpfen. Das Vogelsymbol
poetisiert dabei die spirituell-physische Doppelgestalt der Ruach oder Ur-
Spruches. Zum einen wurden die Vögel wegen ihres Gesanges immer schon der
Sphäre des Sprachlichen, also der quasi unkörperlichen Trägerschaff von
Geistigkeit zugeordnet; zum anderen scheinen die Vögel (bzw. mythische
Flugwesen und verwandte Vorstellungen wie Dämonen), stets den Bereich zwi
schen Himmel und Erde, Geistigem und Körperlichem, beherrscht zu haben.
Diese Vermittlungs- oder Geistinstanz, verkörpert im „über seinen Jungen
fliegenden Adler“, entspricht der Vorstellung von der Ruach als dem
„Erstgeborene[n] der Gottheit“ (Philo), also der Vorstellung von einer Gestalt, die
der reine Geist Gottes annehmen muß, bevor er schöpferisch tätig werden kann.
Vor den Adlerjungen (d. h. vor der Welt und den Menschen) mußte der Adler, die
Hypostase des hervorbringenden Geistes, hervorgebracht werden: als Geburt des