Page 136 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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134 III. K apitel: D er Flug des G enius
Gebärenden. Dieser Instanz zwischen Gott und Welt entstammt der semitischen
Logosvorstellung gemäß auch die Messiasgestalt. Aus diesem semitischen Geist
verständnis (mit der Phiionischen Logoslehre als Spätstufe) erhellt die poetisch
fast zwangsläufige Analogisierung von Flugbild und Erlöserinstanz. Ein gutes
Beispiel für diese Identität ist die Vorstellung von den „Engeln“:
Im philonischen .Logos' sind nämlich alle Kräfte und Tätigkeiten der Gottheit ent
halten und durch sie bilden sie eine Einheit. Der .Logos* ist der Beauftragte und Bote
Gottes, der Dolmetsch oder Mittler (der .Paraklit' des Johannes-Evangeliums) zwi
schen Gott und Welt, er ist weiters das Werkzeug, mit dem Gott die Welt geschaffen
hat (wie der .Demiurg' bei Plato); er ist aber auch der .Hohepriester', der zwischen
Gott und Menschen steht und für diese betet, oder der Engel oder Erzengel [...], und
zugleich eines mit dem .Spruch' des Schöpfers - all dies durchaus jüdische Begriffe.
(Klausner 1950: 187)
Die Flugmetapher verknüpft also das präexistente Geistkonzept mit der Messias
figur. Denn Hölderlin stattet seine Messias- und Geniusfiguren bevorzugt mit
Vogel- und Flugmetaphern aus. Ein Beispiel für ein solches mythomessianisches
Flugbild im ikarischen Sinne bietet die Ode ‘Rousseau’:
Kennt er im ersten Zeichen Vollendetes schon,
Und fliegt, der kühne Geist, wie Adler den
Gewittern, weissagend seinen
Kommenden Göttern, voraus... (W . 37-40)
Die Adlermetapher für den messianischen Genius in der zwölfstrophigen129 Ode
‘An die Deutschen’ versinnlicht, wie sich die Seele des großen einzelnen der
Gemeinschaft vorzusschwingt. Dem Wunschbild des triumphierend
vorausfliegenden Genius Rousseau steht aber auch das ernüchternde Negativbild
vom lyrischen Ich als verkanntem Fremdling im eigenen Land gegenüber:
129 Die gleichnamige Kurzode ist eines der eigenständigen programmatischen „Gedichtchen“
aus der Frankfurter Zeit, deshalb verzichte ich hier auf die Fassungsbezeichnung mit
römischen Ziffern. Im übrigen wäre in diesem Zusammenhang weiterer formaler Aspekt
des proteischen Wandels festzustellen: Neben dem Trend vom Reim zum Silbenmaß die
Tendenz von der Kürze (Epigramme, Kurzoden) zur Länge (tragische Oden, Pindarische
Hymnen).